Dialekt und anderes

Franz Lanthaler


Masserai

ungefähr genau

Wenn die Passeirer einkaufen gehen oder Bestellungen machen, dann verwenden natürlich auch sie die handelsüblichen metrischen Maße wie Meter, Kilo und Liter usw., und natürlich muss di Masserai auch stimmen. Aber in unserer Alltagssprache haben sich auch viele alte Maßangaben erhalten und es gibt in ihr auch eine Reihe ungenauer Angaben für Mengen, Zeit und Entfernungen. Besonders diese Letzteren sind im Dialekt stark vertreten, weil wir ja im Alltag nicht immer ganz genaue Angaben brauchen. Wenn der Zimmermann sagt: Schiëb/schuib mer dës Prett nou a Gidankl hee, dann weiß der Lehrbub, was damit gemeint ist. Der Meister hätte dem Buben auch sagen können, er sollte es a Rickl oder a kluans Prëckl heerschiëbm. Wenn das Brett ums Kennin zi lång isch, kann man a Fetzile abschneiden, wenn es jedoch ums Oorschleckn zi kurz isch, ist nichts mehr zu machen. Solche knappen Maße gelten nicht nur für Distanzen, sondern auch für die Zeit. So kann jemand sagen: Haint hatt i pan an Haarl s Poschtaute fersaump. Und jemand kann etwas in an Icktum herbeizaubern.

Gefäß Foto: Florian Lanthaler Gefäß

Ungenaue Angaben gibt es auch für größere Mengen oder Leistungen. Hat man in kurzer Zeit ein großes Stück Acker umgehauen, kann man sagen: Iëz hoobmern an ourntlichn Renn geebm. Und wenn der Heustock nach einem langen Nachmittag ein gutes Stück in die Höhe gewachsen ist, sagt man: Haint håts a Guats gitoon.

Im Dialekt – und in der Kultur der Dialektsprecher – gibt es neben einer Reihe solch ungefährer Angaben auch eigene genaue Maße, die sich auf Einheiten zurückführen lassen, wie sie vor der Einführung des metrischen Systems üblich waren. Dabei ist zu beachten, dass diese Maße oft nicht nur von Land zu Land, sondern sogar von Gemeinde zu Gemeinde verschieden waren. Viele dieser alten Maße, die in einzelnen Bereichen des Lebens für die unterschiedlichsten Materialien gebraucht wurden, kennt die Standardsprache nicht (mehr).

Sehr viele ungefähre Angaben kennt der Dialekt vor allem bei Essen und Trinken. Da man früher außer den Salat alles mit dem Löffel zu sich genommen hat, war die kleinste Essensmenge a Lëffl foll und, wenn man sagen will, dass jemand nur mehr ganz wenig isst, a Hiëbl. Das Wort kommt von hëibm und bezeichnet eben eine ganz kleine Menge, die man zum Mund hebt. Manchmal konnte man in der Pfanne auch an Aposchtlprockn, also ein sehr großes Stück erwischen. Eine Aufforderung zu einer Essenspause kann auch scherzhaft lauten: Giëmer a Fotze foll oder a Maul foll essn! In Rezepten kann neben Gewichtangaben und der Anzahl, z.B. von Ggåggiler, die Menge auch in Lëffl angegeben werden und neben an Stëckl Schmålz kann es auch a Staapile oder a Hantlfoll Meel brauchen.

Bei der Butter gab es eine klare Abstufung der Mengen: Die gesamte Menge Schmålz, die nach dem Traibm aus dem Kiibile kam, wurde zu einem Knolln geformt und oft sowohl auf der Alm als auch auf dem Hof in dieser Form aufbewahrt. Wenn es weitergegeben werden sollte, wurde es im Moudl geformt. Dabei hat man in neuerer Zeit darauf geachtet, dass die Form, die dann ebenfalls Moudl oder Mëidile genannt wurde, ein halbes Kilo ergab. Vom Knolln oder vom Moudl konnte ein Stëckl, also ein größeres Stück abgestochen werden. Und die kleinste Menge, die man für Rezepte angab, war dann a Patzl. Daher auch der Spruch: Mit an guatn Willn und an Patzl Schmålz geat ålls.

Bei Speck und Fleisch konnte man a Prëckl, an Prockn oder an Rånggn nehmen, beim ggselchtn Flaisch gab es Henkl. Das waren handliche Stücke, die in der Mitte bis knapp unter dem oberen Rand eingehackt wurden, dass man sie auf den Ggårgger hängen konnte, der in den Kamin kam. Die Feigen, die man für die Zelten brauchte, wurden in Kranzler gezählt.

Für Getreide gab es das Staar (zu lat. sextarium), früher für verschiedene Getreidearten auch in verschiedenen Maßen; in unserer Zeit war noch das Kournstaar (für den Roggen, ca. 24 l) und das Fuaterstaar (für den Hafer ca. 45 l) üblich. Es gab auch das Hålpstaar (ca. 15 l) und das Maaßl (1/12 Staar). Für den Hausgebrauch hat man auch die Melter als Maß genommen, auch wenn sie unterschiedlich groß sein konnte. Dem Vieh hat man die Miëte (Grischn ‘Kleie’ oder Schroat ‘geschrotetes Korn’ mit Salz) in einem Stotz in den Poorn gestellt, aber es wurde mit der Hand bemessen: a Håmpfoll (Håntfoll) oder a Ggaufe, die aus den zusammengelegten hohlen Händen bestand. Ge- und verkauft wurde das Getreide schon lange in Zentn(er) und Topplzentner.

Melter Foto: Florian Lanthaler Melter

Sehr ausgeprägt war die Maßeinteilung bei Flüssigkeiten: praktisch jedes Gefäß zum Schöpfen und zur Aufbewahrung von Flüssigkeit wird auch als Maß verwendet, auch wenn diese Gefäße jeweils ein ganz unterschiedliches Fassungsvermögen haben können, denn weder die Këlle noch die Kåndl haben einen fixen Inhalt. Dasselbe gilt für Kriëgl, Ruagl, Schoole wie für Melter und Pitter(le). Für “kostbarere” Getränke allerdings gab es neben ungefähren Angaben wie Låck/Lackl oder Schlånz und Fraggile (zu französisch flacon ‘kleines Fläschchen’) auch genauere Maße wie Stamperle (2 cl) beim Schnaps und Glaasl (1/8 l) sowie natürlich Fiërtl, Hålbe, Liter und Topplliter beim Wein. Fürs Bier gab es auch den Pfiff (0,176 l). Gglaggile und Teegl kamen nur in der Aufforderung vor a Gglaggile oder an Teegl zi trinkn. Für die Milch nahm man auch das Schissile als Maß, denn in einem solchen stand sie immer auf dem Tisch. Für den Transport von Wein auf Saumtieren wurde das Laagl (ca. 40–60 l) verwendet, sonst die Iirn (ca. 80 l) und später das Fassl oder Panzile, das meist 50 l fasste.

Milchschissl Foto: Florian Lanthaler Milchschissl

Für Länge, Fläche und Rauminhalt war der Klafter früher das Grundmaß, also die Länge, die ein Erwachsener mit ausgebreiteten Armen erreichen kann; ein Fuß war 1/6 davon, eine Spanne 1/9 und der Zoll 1/72. Klåfter, Spånne (eigentlich die Distanz zwischen den Spitzen von Daumen und Zeigefinger bei gespreizter Hand) und Zoll waren noch bis in die 50er Jahre gebräuchliche Maße, z.B. für Holz, und der Zoll lebt bis heute weiter im Zollstoob, für den allerdings immer häufiger der Metter verwendet wird. In alten Quellen wird der Passeirer Klafter als Raummaß mit 8,48 m3 angegeben, das entspricht der Klafterlänge von gut 2 m, während diese in den Schneeberger Stollen 1,74 m beträgt. Als ungefähre Angaben gibt es natürlich noch den Schritt, und als kleinstes Maß wird gelegentlich der Zwerchsfinger verwendet. Für Entfernungen im Gelände, die man nicht mit einem fahrbaren Untersatz zurücklegen kann, hat sich bis heute die Angabe in Gehzeiten erhalten.

Die Maßeineit für gesponnene Wolle war zunächst a Spuale und dann der Streen oder der Knuidl. Die Menge Wolle, die für einen Saarner oder einen Schwetter gebraucht wurde, hat man nach Streene berechnet. Beim Strickmuster hingegen musste man die Latze abzählen.

Bei der Heuernte wurden die Traagler gezählt, die man in die Scheune brachte. Die Anzahl der zwischen Schienbeinen und Rechen straff geformten Büschel, Sëtze genannt, aus denen das Traagl bestand, gaben ungefähr das Gewicht an, das einer trug. Für die Menge Heu, die man imWinter von den Mähdern herunter zog, waren die Piirler entscheidend, also die Anzahl der Ladungen, die mit Haizuig und Schliitn transportiert wurde. Die Puschn (Büschel), die vor jedem Schopploch für die nächste Fütterung gerichtet wurden, konnten nicht als Maß genommen werden, da sie nach dem Bedürfnis des einzelnen Tieres geformt wurden. Ein wichtiges Maß für das Heu war di Liëchtmësssaile, eine Stützsäule seitlich an der Tenne. Wenn der Heustock zu Maria Lichtmess nicht weiter als bis hierhin abgetragen war, brauchte man nicht zu fürchten, dass das Heu im Frühjahr knapp werden könnte.

Eine Zeile oder Reihe, die man bei der Ackerarbeit in einem Durchgang bewältigte, war ein Joon; das andernorts noch oft verwendete alte Feldmaß Toogmood ist in Passeier allerdings schon lange nicht mehr belegt.

Bei zählbaren Größen wie Personen, Tieren, Gegenständen usw. wird gelegentlich noch Tuuzit verwendet, ohne dass man sich dabei auf die genaue Zahl aus dem alten Zwölfersystem beziehen muss. Bei einer geringen Zahl werden oft a Poor und anëttline gebraucht; allerdings ist auch hier der alte Spruch a Poor isch zwoa und anëttline sain fimfe meist nur scherzhaft zu verstehen. Für eine große Anzahl, die man nicht genau angeben will oder kann, gibt es: Schopp, Haufn, Schiibl, Kutte, Fluach, Roade.

Besondere Maßeinheiten gab es für frisch gefallenen Schnee. Eine sehr dünne Schicht ist a Rotz oder a Ritzl. Danach kommen körperbezogene Maße zum Einsatz, wie man sie beim Waten im Schnee augenscheinlich erlebt: a Schuachtiëfer, a Hålpstuuzntiëfer, a Kniëtiëfer.

Eine Reihe von Bezeichnungen gibt an, wie voll ein Gefäß oder Raum ist: poudnpidëckt, ggsteckt foll, ggstrichn foll, inhngirennt foll, plaandl foll, aukhauft foll, ggstrouzt foll. Wenn man sagt, dass ein Saal inhngirennt foll Leute gewesen sei, erweckt dies das Bild, als hätte man sie mit Fußtritten hineinbefördert. Bei ggstrichn und aukhauft foll schwingen noch die alten Getreidemaße “gestrichen Star” und “gehauft Star” mit.

Da man im täglichen Leben die Zeit nicht ständig in Minuten und Sekunden angeben muss, gibt es viele Bezeichnungen für kurze Zeitabschnitte, für die oft keine standardsprachlichen Entsprechungen existieren, außer bei a Wailile, denn a Ggsatzl entspricht ursprünglich der Länge eines Geheimnisses des Rosenkranzes und a Readl kommt von Roade, also der Zeit, in welcher einem die Nutzung des Wasserrechtes oder Ähnliches zusteht, und a Fetzile oder a Pissl können ein wenig von allem sein, eben auch von Zeit. Übrigens kann der Dialektsprecher gut mit ungenauen Zeitangaben umgehen. Er weiß, dass gëign an elfe ‘zwischen 10:45 und 11 Uhr’ bedeutet und um a zwoa ‘zwischen 13:45 und 14:15 Uhr’, aber eben auch das nur ungefähr.

A Råffler oder a Ruutscher sind eigentlich ein kurzes Geräusch oder eine schnelle Bewegung, die auf die Zeit übertragen werden. Dasselbe gilt für an Schnåll, an Schnëll, an Ruck: sie können alle auf eine kurze Zeitspanne oder einen sehr kurzen Ablauf übertragen werden. Eine interessante Angabe ist, dass etwas in an Icktum oder in an Ficktum passiert ist. Das kommt vom lateinischen ictus (Schlag). Natürlich kann man auch bei uns af an Sprung bei jemandem vorbeischauen. Ein alter Spruch sagt, dass der Tag zwischen Weihnachten und Dreikönig an Hoontritt länger wird, und von Dreikönig bis Maria Lichtmess an Kåtznsprung. Sonst werden diese beiden Begriffe nicht verwendet.

Die Übertragung von Maßen von einem Bereich auf einen anderen, wie wir sie bisher gesehen haben, hat schon immer stattgefunden. So bedeutet a Miigile ‘ein Bisschen’; es kommt von lat. mica ‘Körnchen’ und ist über das trentinische migol zu uns gekommen. Jetzt kann es auch auf Entfernung und Dauer angewendet werden.

Dafür, wann etwas geschieht oder geschehen ist, gibt es ungefähre Angaben: nit lengischt ist ein negativer Ausdruck für ‘vor Kurzem’; in der Earte und in lëschtn Oodruck geben den Zeitpunkt an, zu welchem im Verlauf eines Geschehens ein bestimmtes Ereignis eintritt. Auch gaalign oder in dergaaling gehört hier her. Es kommt von mittelhochdeutsch gâch (jäh, schnell); wenn es jetzt das Gegenteil anzudeuten scheint, dann kommt das daher, dass man es für Ereignisse verwendete, die länger auf sich warten ließen und dann plötzlich eintraten.

Für Ereignisse, die häufig oder in kurzen Abständen vorkommen, gibt es Angaben, die meist andeuten, dass es sich um lästige Vorgänge handelt: ålle Pippferuns ist aus der Allerheiligenlitanei zu erklären, wo nach jeder Nennung eines Namens das “Bitte für uns” gesprochen wird. Weniger durchsichtig ist ålle Putt. Wer früher Schulden hatte, bekam alle vierzehn Tage ein “Aufgebot”, und für diese Häufigkeit sagte man in der Schweiz und in Westtirol vor allem “all pot, ålla put”. Bei ålle Fetzminutn muss man an das Schweizerische “all Hundfetzete” denken, das in ähnlicher Form auch im Pustertal vorkommt. Von selbst erklärt sich ålle hailign Zaitn für seltene Ereignisse.

Besondere Ausdrücke gibt es zur Beschreibung der Empfindlichkeit von jemandem: man sagt er oder sie isch wëign an niëdn Ggaggile oder wëign an niëdn Ggaiggerle pilaidigit. Wenn man sagt: Haint håtse nou kuan Kearl, kuan Stroach getoon, will man ausdrückn, dass sie nicht die kleinste Arbeitsleistung vollbracht hat.

Wenn man etwas zeitlich oder mit Mühe gerade noch schafft, håt mins hartl, earl, pitschl dertoon oder es isch glaim gångin und man håts fëider khåp. fëider khåp hat mans auch, wenn man sehr knapp an einer Gefahr vorbeigeschrammt ist; das reicht vom Verlieren beim Kartenspiel bis zur Lebensgefahr. Und wenn die Arbeit schwer war, håt mins kam derpåckt. Wenn etwas fleas aufliegt, dann ist es absturzgefährdet, weil es wackelig oder auf geringer Fläche ruht. Beim Wasser bedeutet fleas, dass es seicht ist. Fëider hat es auch jemand, der kurz vor der Pleite steht, und dafür gibt es auch den bildhaften Ausdruck, dass er zwischen Melchn und Ausaichn stehe.

Für die Stadien der Milchproduktion von Kühen in der Zeit der vollen Milchleistung und der Zeit, in der sie psaichn, bis sie gålt giën, gibt es die Ausdrücke follmelch und hålbmelch.

Wofür man heute in der Finanzwelt sagt, dass jemand “nicht liquide ist”, haben wir noch den bildhaften alten Ausdruck: kuan Kraandl in Såck, obwohl natürlich niemand mehr sich an die österreichische Krone erinnert.

Schulden konnte man auch in Schichtn abzahlen und auch für gemeinnützige Einrichtungen in der Gemeinde oder im Dorf wurde jeder Haushalt oft zu einer entsprechenden Anzahl von Tagschichten verpflichtet.