Dialekt und anderes

Franz Lanthaler


Systemverändernde Tendenzen in der Mundart des Passeiertales am Beispiel einiger Verbformen

Dieser Artikel wurde zuerst im Schlern 48/1974, H 7-8-9, 469–474, dann in meinem Buch (2012): Texte zu Sprache und Schule in Südtirol. Meran: AlphaBetaVerlag, 13–24 veröffentlicht. In der folgenden Version ist der Artikel inhaltlich unverändert und in der damaligen Rechtschreibung, nur die Auszeichnung der Zitate und die Dialektschreibung sind leicht verändert. So wird die ursprüngliche Schreibung von hier mit der in gemäßigter Lautschrift üblichen Schreibung ia wiedergegen, also piag, siag, schliafn usw.

Funktion und Leistung der Mundart als Kommunikationsmittel unterliegen heute gänzlich unterschiedlichen Bewertungen. Von der euphorischen Hochschätzung mancher Mundartforscher, die die herbe Schönheit tirolischer Mundarten preisen und sie pflegen und erhalten möchten, über die naserümpfende Distanzierung des städtischen Bildungsbürgers bis hin zur Kampfstellung der Deutschlehrer ist jede Haltung vertreten. Keine dieser meist gefühlsmäßig begründeten Bewertungen wird der Mundart als Verständigung schaffendes System eines begrenzten Sprecherkreises innerhalb der größeren Sprachgemeinschaft gerecht. Sprache ist bekanntlich etwas lebendig Gewordenes, Historisches, und es ist unnütz, über ihren Wert oder Unwert zu streiten, weil man sie normalerweise weder künstlich erhalten noch verändern kann – es sei denn, man verändert die sozialen Verhältnisse der Sprachgemeinschaft grundlegend. Zweifellos hat die Sprache ihre eigene innere Dynamik, aber die Anstöße für ihre Veränderung und Entwicklung dürften durchweg auf außersprachlichem Gebiet zu suchen sein.

Nun ist gerade jetzt in unseren Mundarten vieles in Fluß geraten. Der Wortschatz wird durch Entlehnungen aus anderen Sprachschichten erweitert, damit er die vielen technischen Neuerungen bewältigen kann. Die Erschließung entlegenster Talschaften, die früher Bollwerke konservativer Mundartschichten darstellten, läßt den Einfluß von Hoch- und Umgangssprache auch dort wirksam werden. Natürlich ist auch die Wirkung der Massenmedien auf diesem Gebiet nicht zu unterschätzen; überall gibt es das Radio, und auch auf den Dächern der abgelegensten Bauernhäuser sieht man immer mehr Fernsehantennen. Durch wirtschaftliche Verhältnisse werden viele Mundartsprecher gezwungen, in anderen Mundartgebieten, in der Stadt, im deutschsprachigen Ausland Arbeit zu suchen. Dies trifft für das Passeiertal in besonderem Maße zu, wie es die Dissertation von J. Gebhardt dokumentiert. Danach zwang die geringe Ertragfähigkeit des Bodens in den Höhenlagen und der Geburtenüberschuß zwischen 1958 und 1968 748 meist junge Leute zur Abwanderung aus dem Passeiertal, das sind mehr als 10 Prozent der Gesamtbevölkerung. Zu diesen offiziell Abgemeldeten kommen noch viele, die saisonweise oder ganzjährig im Ausland oder in anderen Gegenden Südtirols tätig sind, und die 288 Pendler, die 1967 täglich nach Meran und Umgebung fuhren – inzwischen dürften sich alle Zahlen beträchtlich erhöht haben. Diese enge Kontaktnahme mit Sprechern anderer Mundarten oder der Umgangssprachen zwingt viele Auslandsarbeiter und Pendler, aber auch viele zu Hause im Fremdenverkehr Tätige, die primären Merkmale ihrer Mundart aufzugeben. Wenn ein Passeiertaler in Meran statt des landesüblichen gell (nicht wahr) das in seiner Mundart gebräuchliche hou sagt, wird er sofort nach seiner Herkunft erkannt und wahrscheinlich ob dieser sprachlichen Eigenheit ausgelacht. Im deutschsprachigen Ausland würde die Partikel erst gar nicht verstanden. So kann der Abbau bestimmter sprachlicher Elemente auch das Bemühen um weitere Verständigung sowie das Bemühen, nicht als Sprecher einer bestimmten Sprachschicht erkannt zu werden, verstanden werden, da dies mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Klasse verbunden wird – in diesem Fall dem Bauernstand, der in weiten Kreisen als dumm, ungebildet oder zumindest schwer verständlich und unbeholfen gilt. Durch die Nivellierung und Anpassung seiner Sprache will sich der Mundartsprecher dem Druck dieser Vorurteile entziehen.

Bei den Aufnahmen zu meiner Dissertation Zur Morphologie der Verben in der Mundart des Passeiertales. Diss. Innsbruck 1971 (Ms). fiel mir vor allem auf, daß nicht nur Sprecher aus verschiedenen Ortschaften, sondern auch Personen ein und derselben Ortschaft, ja sogar Mitglieder einer Familie für den gleichen Sachverhalt ganz verschiedene sprachliche Aussagemöglichkeiten nutzten. Da sich diese Unterschiede im Sprachgebrauch nicht rein systemimmanent, also durch ein komplexes Regelsystem erklären ließen, mußten zur Erklärung weitgehend die schon angedeuteten außersprachlichen Faktoren herangezogen werden. Obwohl diese Aspekte mit der Themenstellung meiner Dissertation nicht direkt zu tun hatten, bin ich diesen Faktoren nachgegangen, um zu sehen, in welchem Ausmaße sie Veränderungen an einer konservativen Mundart bewirken können. Einige krasse Beispiele, die mir bei meinen Aufnahmen auffielen, lenkten mein Interesse in diese Richtung. In Rabenstein, dem höchstgelegenen Dorf, an dem ich Personen befragte, traf ich auf eine Familie, deren Mitglieder alle die primären Merkmale ihrer Mundart beibehalten hatten, mit Ausnahme der ältesten Tochter, die schon längere Zeit außerhalb des Tales auf verschiedenen Posten gearbeitet und ihre Sprache weitgehend verändert hatte. Dies betraf nicht nur die Aussprache und den Wortschatz, sondern vor allem auch die Morphologie und die Syntax. So gebrauchte sie fast durchwegs die “schwache” Form des Konjunktivs II auch bei Verben, bei denen sich alle anderen Familienmitglieder der “starken” Formen bedienten. Sie sagte: i sōget, i plaibet, i sēchet, während ihre Eltern und Geschwister die Formen: i siag, i plīb, i sāch verwendeten (ich sagte, ich bliebe, ich sähe). Wirtschaftliche und soziale Gründe – kinderreiche Familie auf kleinem Bauernhof, keine andere Arbeitsmöglichkeit im Dorf – hatten das Mädchen bewogen, auswärts Arbeit zu suchen; der Drang, ja in bestimmten Berufen und bestimmter Umgebung muß man wohl von Zwang reden, sich sprachlich ihrer neuen Umgebung und Lage anzupassen – ebenfalls ein sozialer Faktor –, hatte zu einer Nivellierung ihres Sprachgebrauchs geführt.

Da ich diese Einzeluntersuchung meinem Thema anpassen mußte, untersuchte ich vor allem die Einflüsse sozialer Faktoren auf die Morphologie der Mundart. Diese Einflüsse und veränderten Tendenzen werden am Sprachmaterial dort am besten sichtbar, wo das System mehrere Möglichkeiten für die Formulierung ein und desselben Sachverhalts anbietet, wo also sogenannte freie Varianten gegeben sind. Z. B. kann man die volkstümliche Redensart: “Hier bliebe ich nicht aufgemalt” in der Mundart des Passeiertales folgendermaßen wiedergeben: dō plīb i nit augemōln(er), dō plaibet in nit augemōln(er), dō plībet i nit augemōln(er) und dō tat i nit augemōln(er) plaibm. In diesem Falle drücken die vier Varianten praktisch denselben Sachverhalt aus. Warum verwendet ein Mundartsprecher mit Vorliebe eine bestimmte Form, ein anderer eine andere; warum verwendet einer grundsätzlich nur eine der obigen Aussagemöglichkeiten, während ein anderer alle vier obigen Formen als ihm bekannte und von ihm verwendete Möglichkeiten angibt?

Die Sprache richtet sich immer zumindest nach den zwei Prinzipien Ökonomie und Klarheit. Deshalb kann man, wenn in einer Sprachschicht eine große Anzahl freier Varianten gegeben ist, davon ausgehen, daß sie von Faktoren, die außerhalb der betreffenden Sprachschicht liegen, bedingt sind. Bei der Mundart des Passeiertales zeigten sich in diesem scheinbaren Durcheinander von Formen Gesetzmäßigkeiten, indem bestimmte Modelle sich bestimmten sozialen Schichten zuordneten – wobei nicht sofort an eine vertikale soziale Schichtung zu denken ist.

Methodisch ging ich bei meiner Arbeit folgendermaßen vor: Ich befragte eine beschränkte Anzahl von Mundartsprechern aus dem ganzen Tal, ausgewählt nach Alter, Wohnort und Gruppenzugehörigkeit (hauptsächlich beruflich zu verstehen). Jeder Befragte wurde gebeten, Modellsätze zu ergänzen oder Fragen zu beantworten. Bei den Konjunktivformen mußten natürlich zu jedem Verb mehrere Sätze gegeben werden, damit klar wurde, daß die Unterschiede im Gebrauch der Formen nicht syntaktisch bedingt waren. Gefragt wurde nach dem Präsens Indikativ der Verben wie piagn – i puig (biegen – ich biege), also Verben mit uiia-Opposition, sowie nach dem Konjunktiv II (K. Praeteriti) von Verben, die einen “starken” Konjunktiv bilden oder bilden können, z. B. plaibmi plīb (bleiben – ich bliebe), piagni pūg (biegen – böge), stēlni stāl (stehlen – stähle), helfni half (helfen – hülfe), fintni fant (finden – fände), fōrni fiar (fahren – führe) sowie einiger anderer Verben mit “starkem” oder unregelmäßigem Konjunktiv. Aus den Antworten der Befragten ließen sich mehrere sich überschneidende Sprecherschichten ermitteln:

1. Bäuerliche Mundartsprecher, also Personen, die ihr ganzes Leben auf einem Bauernhof zugebracht hatten und von der Landwirtschaft lebten. Zur Zeit der Befragung (1969/70) waren es noch mehr als 60 Prozent der Gesamtbevölkerung des Tales.

2. Nichtbäuerliche Sprecher. In diese Gruppe gehören alle Sprecher, die aus dem Tal stammen und dort leben, ob sie nun Pendler sind (waren) oder eine Zeitlang im Ausland zugebracht haben oder im Fremdenverkehr und in anderen Dienstleistungen tätig sind.

3. Weiters ergaben sich sprachliche Unterschiede nach dem Alter der Sprecher, die altersmäßig in drei Gruppen eingeteilt wurden: I. bis zu 30 Jahren, II. zwischen 30 und 50, III. über 50.

4. Ferner wurde die geographische Lage des Wohnortes miteinbezogen, und es wurde untersucht, inwieweit sich der Sprachgebrauch derer, die über 1000 m Meereshöhe leben (Moos, der letzte Hauptort des Tales, bildet hier die Grenze) von dem jener unterscheidet, die auf der Talsohle leben. In der Tabelle sind alle diese Faktoren, die für relevante Unterschiede in Sprachgut und Sprachgebrauch sorgen, berücksichtigt.

Anzahl der Formen
Ort Schicht Praesens Sg. Konjunktiv II
puig piag plīb plaibet plīb tat plaibm
st. sw. m u
Rabenstein B 22 2 + 92 23 1 35
A 10 5 + 48 14 1 26
G 32 7 + 140 37 2 61
Pfelders B 8 0 + 31 8 - 9
A 10 3 + 49 9 - 20
G 18 3 + 80 17 0 29
Stuls B 12 3 + 47 16 - 19
A 20 5 + 94 49 - 20
G 32 8 + 141 65 0 39
Platt B 16 0 + 56 11 1 34
A 18 20 + 78 34 2 80
G 28 20 + 134 45 3 114
Moos B 15 9 + 76 18 - 40
A 13 10 + 56 16 7 53
G 28 19 + 132 34 7 93
St. Leonhard B 9 4 + 46 5 - 30
A 3 18 + 38 34 2 52
G 12 22 + 84 39 2 82
Walten B 16 1 + 67 6 - 40
A 9 8 + 49 20 2 43
G 25 9 + 116 26 2 83
St. Martin B 11 11 + 56 41 - 36
A 15 14 + 80 46 - 38
G 26 25 + 136 87 0 74
Saltaus B 3 2 + 14 9 - 6
A 0 8 + 13 18 6 15
G 3 10 + 27 27 6 21
Passeiertal B 104 32 + 485 137 2 249
A 100 91 + 505 240 20 347
G 207 123 + 990 377 22 596
Prozent
Schicht Praesens Sg. Konjunktiv II
puig piag plīb plaibet plīb tat plaibm
B 76% 24% + 55,5% 16 % 0,2% 28,5%
A 52% 48% + 45 % 21,5% 1,8% 31%
G 63% 37% + 50 % 19 % 1,1% 30%
B + 1000 91% 8,5% + 59% 13% 0,4% 27,5%
B -- 1000 59% 41% + 51% 19% 0,0% 30%
A + 1000 60% 40% + 50% 18% 0,7% 30%
A -- 1000 44% 56% + 39% 24% 3,1% 33%
III 84% 16%+ + 58% 16% 0,4% 26%
II 59% 41% + 50% 19% 1,0% 30%
I 47% 53% + 42% 22% 1,8% 34%

Legende:

  • B = bäuerlicher Sprecher,
  • A = nichtbäuerlicher Sprecher,
  • III über 50 Jahre,
  • II = 30 – 50 Jahre,
  • I = -30 Jahre,
  • +1000 = über 1000 m,
  • -1000 = unter 1000 m wohnhaft.

Diese Tabelle läßt sich folgendermaßen interpretieren:

1. Bei Verben, die die Personalformen des Präsens Singular Indikativ mit ui oder ia bilden können, zeigt sich folgendes Verhältnis in der Anzahl beider Formen: Insgesamt 62% mit ui, also puig, luig, fluig (biege, liege, fliege) gegen 37% mit ia, also piag, liag, fliag. Immerhin ein ganz klares Überwiegen der nicht mit der Mehrzahl, dem Infinitiv und den Formen der Nachbarmundarten übereinstimmenden Formen. Bei den bäuerlichen Sprechern zeigen sich noch größere Unterschiede: 76% puig – gegen knapp 24% piag-Formen; bei den nichtbäuerlichen Sprechern ist das Verhältnis jedoch nur etwas über 52% puig zu knapp 48% piag. Aufgeschlüsselt nach dem Alter der Befragten ergeben sich folgende Prozentsätze: Altersgruppe III gut 85% puig; Altersgruppe II 59% puig, und bei den Befragten unter 30 Jahren ergab sich schon eine Mehrheit für die nivellierte piag-Form mit 53%.

Bei der Aufschlüsselung nach dem Wohnort der Sprecher ergeben sich folgende Prozentzahlen: Bauern über 1000 m Meereshöhe bedienen sich zu 90% der Formen mit Vokalwechsel zwischen Singular und Plural, bilden also das Erstere mit ui; nichtbäuerliche Sprecher, die auf dieser Höhe leben, verwenden diese Formen zu 60%. Die in niedrigerer Höhe lebenden Bauern verwenden ebenfalls zu 60% puig, bei den nichtbäuerlichen Sprechern auf der Talsohle überwiegt schon klar piag mit 56%.

Diese Zahlen demonstrieren folgende Tendenzen:

a) Die bäuerliche Bevölkerung bedient sich in viel stärkerem Ausmaß als nichtbäuerliche Schichten jener Formen, die sog. primäre Mundartmerkmale darstellen oder enthalten.

b) Je älter der Mundartsprecher, desto häufiger verwendet er dialektale Formen, die sich von umgangssprachlichen und hochsprachlichen Formen unterscheiden. Jüngere Sprecher verwenden weit häufiger angepaßte Formen.

c) Zur Talsohle und zur Mundartgrenze hin macht sich eine stark abschwächende Tendenz bemerkbar.

d ) Mundartsprecher, die längere Zeit außerhalb des Mundartgebietes verbracht haben oder in ständigem Kontakt mit Sprechern anderer Sprachschichten oder anderer Mundarten stehen, haben die primären Merkmale der Passeiertaler Mundart schon weitgehend abgelegt und bedienen sich nivellierter, also an die Umgangs- oder Hochsprache angepaßter Formen.

e) Die Tabelle zeigt weiters, daß bei bäuerlichen Sprechern die “starken” Formen in Richtung Talsohle und Mundartgrenze nicht in dem Maße abnehmen wie bei anderen sozialen Gruppen. Ein siebzigjähriger Bauer aus Saltaus, dessen Hof kaum 100 m von der Hauptstraße entfernt steht, wies praktisch denselben Sprachstand auf wie mein Vater, der in Rabenstein, auf 1700 m Meereshöhe, gelebt hat. Diese konservativere Haltung der bäuerlichen Bevölkerung gegenüber sprachlichen Nivellierungstendenzen geht aus der Tabelle puigpiag von Platt, Moos und St. Leonhard hervor. Dabei ist allerdings zu beachten, daß noch vor einer Generation die höher gelegenen Dörfer fast ausschließlich bäuerliche Struktur aufwiesen und daß eine berufliche Differenzierung erst in der jetzt lebenden Generation stattgefunden hat, so daß die Angehörigen nichtbäuerlicher Berufsgruppen fast immer aus Bauernfamilien stammen und daher auch noch weitgehend denselben Sprachstand aufweisen wie diese. An der Talsohle, wo diese Differenzierung schon viel früher vollzogen wurde, ist bei den Vertretern dieser Berufsgruppen die sprachliche Angleichung schon viel weiter fortgeschritten.

2. Die Tabelle der Verben, die einen “starken” Konjunktiv II bilden können, bestätigt die obigen Befunde. Allerdings gibt es hier nicht nur eine Alternative wie bei uiia, sondern dem Sprecher stehen hier jeweils mehrere Möglichkeiten zur Verfügung, wie schon am Beispiel von plaibm angedeutet wurde: nämlich “starke” Form plīb, “schwache” Form, plaibet, Mischform plībet, wo also Vokalwechsel plus Dentalsuffix zur Formbildung herangezogen werden, und die Umschreibung mit tat. Das Verhältnis “starke” – “schwache” Formen ist hier also nicht isoliert zu betrachten, sondern nur im Verein mit den übrigen Möglichkeiten, wenn auch die Mischflexion zu einem sehr geringen Maße verwendet wird.

Im Gebrauch dieser vier möglichen Varianten zeigt sich nun folgendes prozentuelles Verhältnis: “stark” 50%, “schwach” 19%, tat-Umschreibun­gen 30% und nur etwas über 1% Mischflexionen. Aber auch hier ergaben sich große Unterschiede zwischen bäuerlicher und nichtbäuerlicher Bevölkerung. Bei der ersteren machten die “starken” Formen über 55%, die “schwachen” knapp 16%, die Umschreibungen über 28% und Mischflexionen nur 0,2% aus. Bei den übrigen Mundartsprechern hingegen ergab sich folgendes Verhältnis: “stark” über 45%, “schwach” über 21%, Umschreibungen gut 31% und Mischformen knapp 2%. Die Tabelle zeigt wieder folgende Tendenzen auf:

a) Die “starken” Formen nehmen bei bäuerlichen wie bei nichtbäuerlichen Sprechern zur Talsohle und zur Mundartgrenze hin ab. Die übrigen Formen nehmen insgesamt zu.

b) Wenn die Unterschiede hier auch nicht so groß sind wie bei den Präsensformen, so demonstrieren sie doch klar genug, daß neben wirtschaftlich-sozialer Zugehörigkeit die geographische Lage und die Altersgruppen einen entscheidenden Einfluß bei der Wahl der entsprechenden Variante ausüben.

Es erübrigt sich, die Tabelle weiter aufzuschlüsseln. Der untere Teil der Tabelle mit Angaben der prozentuellen Verhältnisse zeigt klar die erheblichen Unterschiede auf, die zwischen den verschiedenen Schichten liegen. Es bleiben nur noch einige Feststellungen zu den einzelnen Kategorien.

Daß das Alter eine entscheidende Rolle für die Aufnahmefähigkeiten einer Person für sprachliche Veränderungen spielt, liegt auf der Hand. In einem bestimmten Lebensalter haben sich bei den meisten Menschen sprachliche Muster so verfestigt, daß sie auch bei häufigem Anhören anderer Muster nicht durch diese ersetzt werden. Meine Großmutter verwendete mit über achtzig Jahren als einzige im Dorfe noch das Zahlwort uandlfe; wahrscheinlich ist ihr gar nie aufgefallen, daß inzwischen alle elfe (für ‘elf’) sagten. Aufgeschlossen für sprachliche Neuerungen sind vor allem die Jungen, besonders Jugendliche unter 20 Jahren. Dafür dürfte es zwei Gründe geben: Einerseits ist diese Gruppe im System der Mundart noch nicht endgültig verfestigt, andererseits ist gerade bei ihnen der Kontakt mit anderen Menschen, mit einer modernen Umwelt durch Schule, Berufsausbildung und Medien am intensivsten. Dies war übrigens auch die einzige Gruppe, bei der sich richtige Grammatikfehler fanden, d. h. Äußerungen, die nach dem phonologischen, morphologischen und syntaktischen System der Mundart nicht zulässig sind. Einen Zwanzigjährigen, der seit Jahren in völlig italienischer Umgebung lebt, hörte ich sagen: hosch der weah gemocht? Solche Fehler bilden aber Ausnahmen. Der Mundartsprecher macht kaum Grammatikfehler. (Das ist ein Beweis dafür, daß Landkinder nicht weniger sprachbegabt sind als andere, die schon im Elternhaus eine der Hochsprache verwandtere Stadtmundart oder Umgangssprache erlernen. Wenn diese im Sprachunterricht dann besser abschneiden, so ist das weitgehend auf diesen Vorsprung zurückzuführen, den Landkinder erst mühsam aufholen müssen).

Die Höhenlage ist ein anderer Faktor, der das sprachliche Verhalten mitbestimmt. Wenn auf größerer Höhe lebende Personen allerdings ein konservatives Sprachverhalten an den Tag legen, so hängt das nicht direkt mit der Meereshöhe zusammen, sondern mit der Tatsache, daß höher gelegene Orte erst seit kurzem erschlossen worden sind – Stuls und Ulfas hatten erst kurz vor meinen Aufnahmen eine Zufahrt erhalten, Rabenstein ist bis jetzt ohne Straßenverbindung – und daß dort bis vor einer Generation eine geschlossene bäuerliche Dorfgemeinschaft mit Selbstversorgerwirtschaft bestand. Obwohl es im Passeier weniger Einödhöfe gibt als in anderen Tälern des Landes, liegen die Gehöfte in den Bergdörfern auch hier oft weit auseinander, so daß die Kontaktnahme viel geringer ist als in den Dörfern der Talsohle. So konnten sich in diesen Bezirken sprachliche Neuerungen auch nicht sehr schnell verbreiten.

Daß nun die bäuerliche Sprecherschicht für sprachliche Veränderungen weniger empfänglich ist als andere, läßt sich nicht schwer erklären. Die Arbeits- und Wirtschaftsweise auf den Höfen des Passeiertales war in der letzten Zeit viel weniger Veränderungen unterworfen als die anderer Schichten.

Am Ende eines solch kurzen Exkurses lassen sich natürlich keine weitreichenden Schlüsse über die Zukunft der Passeiertaler Mundart ziehen. Es ergeben sich aber immerhin folgende Befunde:

1. Die sogenannten freien Varianten sind in Wirklichkeit für den Sprecher selten frei verfügbar; je nach Alter, Wohnort und Schichtenzugehörigkeit kommt für ihn innerhalb einer bestimmten syntaktischen Gruppierung meist nur eine Form in Frage.

2. Alle diese Schichten und Gruppen sprechen zwar die Passeiertaler Mundart, sie befolgen aber alle ein verschiedenes Regelsystem. Die Mundart ist also kein geschlossenes System mehr, sondern sie ist geschichtet.

3. Wenn man Alter, Wohnort und soziale Zugehörigkeit (die sich hier hauptsächlich auf den Arbeitsbereich bezieht) eines Sprechers kennt, kann man mit großer Wahrscheinlichkeit voraussagen, welche Form der Sprecher in einer bestimmten Situation benutzen wird. Mit größter Wahrscheinlichkeit wird ein Bauer, der über 1000 m lebt und über 50 Jahre alt ist, primäre Dialektmerkmale zeigen, also nach unserem Beispiel “starke” Verbformen verwenden, ein Jugendlicher aus dem Außerpasseiertal, der irgendeinen Beruf erlernt oder erlernt hat, wird mit ebensolcher Wahrscheinlichkeit keine primären Dialektmerkmale zeigen und die “schwachen” Verbformen, bzw. Mischformen und Umschreibungen gebrauchen Die tat -Umschreibung ist allerdings kein Zeichen für sprachliche Nivellierung. Sie wird auch von konservativen Mundartsprechern mit großer Häufigkeit in den verschiedensten Funktionen verwendet. Siehe dazu: Erben, Johannes: “Tun als Hilfsverb im heutigen Deutschen. In: Festschrift für Hugo Moser. Hrsg. Engel, Ulrich und Paul Grebe und Heinz Rupp. Düsseldorf 1969, S. 46–52. . Zwischen diesen beiden Extremen liegen alle anderen Möglichkeiten, deren Verwendung mit jeweils wechselnder Wahrscheinlichkeit ebenfalls voraussagbar ist.

4. Da es neben systemverändernden in einer Sprache auch systemerhaltende Dal, Ingerid: Systemerhaltende Tendenz in hochdeutschen Mundarten. In: Wirkendes Wort, Sammelband I: Sprachwissenschaft. 1962, S. 133–140. Tendenzen gibt, ist nicht anzunehmen, daß es in absehbarer Zeit keine Passeiertaler Mundart mehr geben wird oder daß die Entwicklung dahin geht, daß wir einmal nur mehr eine Umgangssprache mit dialektalen Einschlägen haben werden.