Dialekt und anderes
Franz Lanthaler
giën giën
Etwas Besonderes hat es mit dem Wort giën in vielen Dialekten auf sich, und selbstverständlich auch im Passeier. Zunächst bedeutet es einmal ‘gehen’. Aber es hat auch viele andere Bedeutungen. Man denke nur an die Frage: wië geats in Footer? (wie geht es dem Vater?). Da wird mit giën nach dem Gesundheitszustand von jemandem gefragt. Und wenn man sagt: dës geat nit, dann heißt das, dass etwas nicht möglich ist oder nicht vorkommen sollte. Und dann gibt es unendlich viele Zusammensetzungen mit giën: s Kourn geat au (der Roggen geht auf), di Fårbe geat oo (die Farbe geht ab), di Zait fergeat (die Zeit vergeht), di Milch geat iiber (die Milch geht über), s Gelt geat drau (das Geld geht auf), in Toag muëßmin giën låssn (den Teig muss man gehen lassen) und deer Saarner geatder nit guët, probiër an åndern (dieser Saarner sitzt nich gut, probier einen anderen). Da alles auf der Welt immer in Bewegung ist, ist dieses Verb wohl eines der am häufigsten gebrauchten Wörter in unserer Sprache.
Es gibt auch besondere Wendungen mit giën in allen unseren Dialekten. Wir sagen nämlich, dass die Kinder Schuële giën (zur Schule gehen, die Schule besuchen). Geat di Leene nou Schuële? bedeutet: ‘ist die Lene noch schulpflichtig’ oder ‘besucht sie eine weiterführende Schule?’. Auch Kirchn giën (der Messe beiwohnen), sagen wir. Hier braucht es kein “in” als Angabe, wohin man geht, denn es sind nicht Orte oder Gebäude gemeint, die man besucht, sondern gemeint ist der traditionell verpflichtende Besuch von Unterricht und Messe. Das wird ganz deutlich, wenn meine Geschwister erzählen: miër hoobm nou gimiët Fairtigschuële giën (wir mussten noch die Feiertagsschule besuchen). Das war der Religionsunterricht für Schulentlassene, der an Sonn- und Feiertagen im Widum abgehalten wurde. Roasnkrånz giën hieß, die Gebetsandacht am Sonntagnachmittag in der Kirche besuchen. Und in der Tråcht giën heißt, dass man Tracht trägt. Wenn beim Kartenspiel gipoutn wert (ein Gebot gemacht wird), heißt es håltn oder giën (annehmen oder passen).
Eine besondere Verwendung findet giën auch als Einleitung einer Bitte. So kann jemand im Dorfladen sagen: gea, giibmer an Knuidl Spoogit (geh, gib mir einen Knäuel Spagat = gibst du mir bitte …), oder zur Nachbarin: gea, laichmer dëcht an pirschter (geh, leih mir doch eine Bürste = würdest du mir bitte …). Es kann aber auch eine Aufforderung sein: gea, hear au! (geh, hör doch auf!).
Das alles zeigt, wie vielfältig giën benutzt wird. Doch es gibt noch ganz andere Möglichkeiten mit diesem Wort. Denn bei uns – wie in vielen anderen süddeutschen Dialekten – wird es auch für den Beginn einer Handlung oder für die Aufforderung zu einer solchen gebraucht: giëmer essn (gehen wir essen), giëmer Holz håckn (gehen wir Holz hacken), oder verkürzt: giëmer zin Holz oder giëmer zin Hai (gehen wir zur Holz- oder Heuarbeit) und: der Footer håt ggsågg, er geat aumåchn (der Vater hat gesagt, er geht die Heubüschel für die Fütterung vorbereiten).
Auch zweifach kann das Wort vorkommen: iëz giëmer giën (jetzt gehen wir gehen) kann man sagen, was so viel bedeutet wie: ‘jetzt machen wir uns auf den Weg’. Wie kommt es zu dieser Wendung?
In der Schweiz, wo diese Verdoppelung von Verben mehrfach vorkommt, nämlich nicht nur bei “gehen”, sondern auch bei “kommen, lassen, anfangen”, hat man die Entstehung dieser grammatischen Besonderheit eingehend untersucht. Bei uns ist sie bis jetzt kaum beachtet worden, außer dass sie gelegentlich scherzhaft kommentiert wird.
Man kann sich das so vorstellen: Man ist auf der Wiese oder im Wald und sagt: giëmer essn. Man will ja wirklich heimgehen zum Essen. So wird essn giën eine feste Redewendung. Und wenn man schon daheim ist und auf der Stubenbank sitzt, sagt man dann auch: giëmer essn. Nun muss man jedoch nicht mehr gehen, man ist ja schon da. Also bekommt giën eine neue Bedeutung. Wer im Fernsehen Berichte aus dem Parlament gesehen hat, hat diese Situation schon erlebt: Nach einer längeren Debatte sagt der Präsident: “Wir schreiten jetzt zur Abstimmung.” Doch die Abgeordneten bleiben alle sitzen, denn sie stimmen ab, indem sie auf einen Knopf drücken. Dieses “schreiten” ist also nicht wörtlich gemeint, sondern kündigt nur den Beginn der Abstimmung an. So muss man das essn giën verstehen, wenn alle schon da sind und sich nur hinzusetzen brauchen. Wenn bei uns die meisten zu Hause waren und jemand noch im Stadel, im Stall oder irgendwo in der Nähe bei der Arbeit war, dann stellte sich die Schwester, die fertig gekocht hatte, in die Küchentür und rief: miër giën essn. Das nannten wir Essn hoaßn, denn das hieß: “Die da sind, fangen jetzt an zu essen”, und wer das hörte, wusste, dass er kommen sollte. Das konnte nun auch auf andere Handlungen und Ereignisse übertragen werden. Ein Bericht wie: når sainse gångin straitn, heißt also ‘dann haben sie angefangen zu streiten’.
Dieser Übergang der Bedeutung von giën hin zu ‘anfangen’ wird besonders deutlich, wenn es mit mëign, solln oder miëßn kombiniert erscheint: iëz wuure (når) mëign giën d’Eertëpfl iibertiën (ich sollte wohl bald gehen die Erdäpfel auf den Herd stellen = ich sollte wohl bald drangehen die Erdäpfel aufzustellen) oder: doo måggsche giën nou a pissl a Schmålz inhntiën (da solltest du jetzt noch ein wenig Butter dazugeben). Manchmal ist noch einiges von ‘gehen’ (Fortbewegung) da, aber schon sehr viel von ‘drangehen’, also ‘anfangen’.
Da man zu vielen Tätigkeiten sich irgendwo hin begeben musste, hat man giën dann eben für den Beginn auch von Aktionen verwendet, wo das nicht notwendig war, weil man eben schon an Ort und Stelle war.
Und nun konnte man damit auch anderes ausdrücken, z.B. eine Absicht: iëz gang i a pissl råschtn (jetzt ginge ich ein wenig rasten = möchte ich ein wenig rasten). Oder: når pinidn amåll gångin di Muanign soogn (dann hab ich mich entschlossen, ihm richtig die Meinung zu sagen). Hier beschreibt giën die spontane Entstehung eines Beschlusses.
Nachdem nun giën nicht mehr für die Fortbewegung verwendet wurde, sondern für den Anfang einer Handlung, konnte es auch verdoppelt werden, wobei das erste den Beginn des Geschehens ankündigte und nur das zweite die ursprüngliche Bedeutung von ‘gehen’ behielt. So besagt miër giën giën ‘wir wollen uns auf den Weg machen’, und geatis schun giën? steht für ‘wollt ihr wirklich schon aufbrechen?’. Und wenn jemand sagt: i gea giën s Fiich auslåssn, dann kündigt er seine nächste Handlung damit an, dass er nämlich das Vieh aus dem Stall lassen will. Hier jedoch hat keines von beiden mehr die ursprüngliche Bedeutung von ‘gehen’, sondern das erste, i gea, steht für die Absicht, und das zweite, giën, steht für die nahe Zukunft, also für ‘jetzt gleich’.
Nachdem das Verb nun, wie gesagt, von der ursprünglichen Bedeutung abgekoppelt verwendet wurde, konnte es auch für andere Inhalte gebraucht werden. So kann dadurch auch Überraschung ausgedrückt werden: Geatsise woll giën ferpleppern! (verplappert sie sich doch tatsächlich!). Da tritt etwas ein, was man nicht erwartet hätte und was möglicherweise auch unerwünscht war. Und auch der Verärgerung kann dieses giën Ausdruck verleihen: Geater nit lai giën s Wåsser der main Åcker oochnkearn! (Hat er doch die Frechheit, das Wasser durch meinen Acker zu leiten!).
Dabei kann die Wortstellung die Bedeutung etwas verschieben. So wäre i geas giën der Annin soogn (ich geh es jetzt der Anna sagen) die neutrale Ankündigung, aber i geas der Annin giën soogn würde schon aufgeregter klingen oder wie eine Drohung. Und miër giën s Hai giën zåmmtiën würde jemand nur sagen, wenn es bis dahin nicht so aussah, als ob es schon gut abgetrocknet wäre; im Normalfall würde es nämlich heißen miër giën giën s Hai zåmmtiën.
Wenn der Vorgang, der gemeint ist, sich nun tatsächlich auf das Gehen bezieht, kann das gleiche Wort dreimal gesetzt werden, nämlich: miër giën iëz når giën giën. Das bedeutet: ‘Wir wollen uns jetzt bald auf den Weg machen!’ Eine solche Äußerung ist nicht nur bei uns im Passeier möglich, sondern auch im Vinschgau und im Ulten. Die drei giën stehen jedoch selten gleich hintereinander, sondern es ist praktisch immer ein iëz oder når oder gaalign dazwischen. Dabei haben die ersten beiden giën dieselbe Funktion wie oben bei s Fiich auslåssn und erst das dritte giën steht für ‘gehen’.
Diese Aussage lässt dem Passeirer allerdings manchmal noch viel Zeit bis zum endgültigen Aufbruch, weil: fourn Giën ischmin ålbm nou i pissl gipliibm (vor dem Aufbruch ist man immer noch ein Weilchen geblieben), wie man bei uns sagt.
Aus dem Obigen wird jedoch sichtbar, wie Sprache sich weiterentwickelt, indem Wörter im Gebrauch nicht nur ihre Bedeutung verändern, sondern auch neue grammatikalische Eigenschaften annehmen, wodurch neue Verwendungsweisen möglich werden.