Dialekt und anderes

Franz Lanthaler


In an Icktum

Lateinisches im Dialekt

Die Sprache der alten Römer, das Latein, war durch Jahrhunderte die Sprache der Gelehrten, in der sie diskutierten und schrieben, und bis 1963 war es die Sprache der kirchlichen Liturgie. Da ist es kein Wunder, dass Spuren dieser Sprache in allen europäischen Sprachen zu finden sind, nicht nur in den romanischen, sondern eben auch in den germanischen, slawischen usw. Das Deutsche würde ohne den Einfluss des Lateinischen heute ganz anders aussehen. Aber wie weit ist auch der Dialekt davon betroffen?

In an Icktum håtse den Tisch oogiraump khåp und di Kårtn außergitoon, sagte der Spieler lobend von der Hausfrau, die er zu einem Karterle aufgefordert hatte. Wer ein bisschen medizinisch gebildet ist, weiß heute, was ein Iktus ist, nämlich ein Schlaganfall. Und wie fast alle medizinischen Fachausdrücke kommt das Wort aus dem Lateinischen: ictus kommt von icere (werfen, schlagen) und heißt: Hieb, Stich, Treffer. Im Passeier bedeutet in an Icktum ‘im Handumdrehen, in kürzester Zeit’.

Viel Lateinisches ist sicher durch die kirchliche Liturgie in die Volkssprache gekommen, aber einiges, wie man am obigen Beispiel sieht, auch durch die Gelehrtensprache. Pfarrer, Ärzte, Ingenieure vom Schneeberg waren schon immer durch die Lateinschule gegangen und etwas davon war in ihrer Alltagssprache geblieben und kam so unters Volk. Übrigens gibt es neben Icktum auch noch ein Ficktum, was allerdings nur eine Abwandlung desselben Wortes sein dürfte.

Lateinische Wörter, die ins Deutsche gedrungen sind, verwenden wir alle Tage, wie exggere, Affikatt, speckiliërn usw. (von: extra, advocatus, speculari). Hier wollen wir uns auf das konzentrieren, was nicht über den Umweg der Hochsprache ins Passeier gekommen ist, sondern was direkt aus dem Latein in den Dialekt übernommen wurde und dort meist auch eine besondere Form und Bedeutung erlangt hat.

Da, wie bereits erwähnt, die gesamte Liturgie bis zum 2. Vatikanischen Konzil lateinisch war, sind auf diesem Wege viele lateinische Wörter in die Volkssprache gelangt. Manche davon sind sicher gleichzeitig in den Dialekt und in das Hochdeutsche gekommen, man denke nur an Effngëll, Littinai, Kwåttemmer, Dischpens. Da Evangelium, das ursprünglich ein griechisches Wort ist, auf Deutsch und Latein gleich klingt, braucht man sich da nicht den Kopf zu zerbrechen. Bei Littinai, und Dischpens kann man dasselbe annehmen. Heute ist vielen das letzte Wort nicht mehr geläufig; das war früher anders. Wenn während einer langen Haifätze gerade am Sonntag schönes Wetter war und man das viele Heu, das schon ganz fuxit da lag, endlich trocken unters Dach bringen konnte, musste man den Pfarrer dazu um Dischpens fragen, also um die Ausnahmegenehmigung, ein kirchliches Gebot zu übertreten. Kwåttemmer, hochdeutsch Quatember, kommt von quatuor tempora, später auch quatempora, was so viel heißt wie ‘die vier Zeiten’. Das waren ursprünglich die vierteljährlichen strengen Fasttage der Kirche.

Ein interessantes Wort ist Feelum, das ist der Umhang des Priesters, eigentlich ist damit ein Tuch innerhalb des Umhangs oder Rauchmantels des Priesters gemeint, mit dem er die Monstranz anfasst. Lateinisch velum konnte vieles bedeuten: ‘Tuch, Segel, Umhang’. Da die Ministranten diesen Umhang bereit halten und gelegentlich dem Geistlichen reichen mussten, ist der Ausdruck, den der Pfarrer dafür verwendet hat, ihnen geläufig geworden. Das Wort wurde nur lautlich an den Dialekt angepasst, denn – was viele Radio- und FernsehsprecherInnen nicht mehr wissen – das v wird im Süddeutschen als f ausgesprochen, also Falentin, nicht Walentin usw. Von Tårze, dem kirchlichen Kerzenständer, nimmt man an, dass am Ursprung ein spätlateinisches torca steht, das zu italienisch torcia wurde, zu uns aber sicher direkt aus dem Lateinischen gekommen ist.

Afmar oder Aufmerië und Ammin sind natürlich direkt aus den lateinischen Gebeten übernommen. Ersteres, aus Ave Maria, wurde allerdings nur fürs Afmarlaitn verwendet, denn gebetet wurde ja das Gëigeresaischtemarië. Ammin, aus lateinisch Amen, kommt eigentlich aus dem Griechischen am én (so sei es), und wenn jemand heute sagt: Ammin und a Luck drau, dann hat das genau diese Bedeutung, auch wenn es meist in einem profanen Zusammenhang gesprochen wird.

Dass die Sakristei Soogerit oder Soogilått geheißen hat, habe ich erst wieder von Frauen aus Rabenstein erfahren; es war also in meiner Jugendzeit schon nicht mehr allgemein üblich. Das Wort kommt von lateinisch sacristia, denn so wurde der Raum mittellateinisch genannt, und heute verwenden wir fast immer das davon abgeleitete Wort Sakristei.

Ein Wort, das ebenfalls aus dem kirchlich-religiösen Bereich kommt und das es auch hochdeutsch gibt, das aber bei uns in einer besonderen Bedeutung und nur in der Mehrzahl auftritt, ist Sektn. Wer vom normalen Verhalten abweicht und besondere Eigenschaften an den Tag legt, hat Sektn. Es kommt vom lat. secta, das so viel bedeutete wie ‘Ideologie, Gefolgschaft’, von der Kirche gewöhnlich mit dem griechischstämmigen Wort Häresie, also ‘Irrlehre’ gleichgesetzt. Mein Vater hat erzählt, dass ein Nachbar zum Bauerndoktor ging, weil ein Kalb krank war, und auf die Frage, was es denn habe, soll er gesagt haben: S Kalbl håt Sektn: es steat hinter der Tiir’und frisst kuan Piss.

Viele Kraftausdrücke und Flüche stammen aus dem religiösen Bereich, denn darin besteht ja gerade das Fluchen, dass man Heiliges oder Ehrwürdiges im Ärger oder Zorn missbraucht. Allerdings werden viele dieser Ausdrücke so abgewandelt, dass sie sehr abgeschwächt erscheinen. Man denke nur an Åschpele oder saggerisch, die nicht mehr anstößig wirken. Wohingegen Åschtia ein richtiges Fluchwort ist, von dem allerdings anzunehmen ist, dass es übers Italienische in unsere Sprache gekommen ist, da sonst nirgends die Hostie als Fluchwort auftaucht; dazu gibt es auch noch Gandaloschtia (aus: can dell'ostiaHund von einer Hostie!’). Saggerisch ist nur mehr eine Verstärkung, z. B. a saggerischer Prockn; aber: a fersaggerter Spitzpua oder a saggere Lauser sind noch sehr negativ besetzt. Sie kommen alle von lateinisch sacer, sacra, sacrum (heilig). Fermålledait, von lateinisch maledicere (verfluchen), kann über das Hochdeutsche gekommen sein wie auch Malefitz, von maleficus (einer, der Böses tut, Übeltäter), das vor allem im Zusammenhang mit der Hexenverfolgung gebräuchlich war. Davon ist nur mehr eine schwache Erinnerung geblieben, wenn man jemanden einen Malefitzpua nennt.

Eine sehr interessante Umwandlung hat das Gebet Asperges me im Dialekt erfahren. Wenn der Pfarrer mit dem Weihwasserwedel durch die Kirche ging und dabei betete oder sang: Asperges me, domine, hyssopo et mundabor (Bespritze mich, Herr, mit dem Ysop, und ich werde reingewaschen), wurde dieser Vorgang in vielen Dialekten das Aschpergis, oder auch Spergis genannt. Weil der Priester bei dieser liturgischen Handlung weit ausladende Bewegungen machte, wurden daraus später die Spergimentn. Das Wort wird oft auch im übertragenen Sinn verwendet; wenn man zu jemandem sagt, er solle nit lång Spergimentn måchn, so heißt das, er soll keine Dummheiten machen oder Ausflüchte suchen.

Eine besondere Bedeutung hat auch matutinae im Dialekt bekommen. Ursprünglich war es das Morgenlob, zu dem die Mönche in den Klöstern noch zu nachtschlafener Zeit gerufen wurden. Es ist schon althochdeutsch als mattina, mettina aus dem Mittellateinischen übernommen worden und mittelhochdeutsch dann zu mette, metten geworden. Bei uns steht Mëttn für die Christmette, also die weihnachtliche Mitternachtsmesse, und für einen ungewöhnlichen Lärm. Dazu wird auch noch das Zeitwort mëttnin gebildet. Auch hier erfährt ein aus der kirchlichen Liturgie kommendes Wort eine eigentümliche Bedeutung. Wie es von der klösterlichen Morgenandacht über die Mitternachtsmesse zur Bezeichnung einer ungewöhnlichen Lärmbelästigung kommen konnte, kann man sich nur so vorstellen, dass die früher einzige nächtliche Veranstaltung im Dorf einen ungewöhnlichen Einschnitt in die sonst absolut herrschende Nachtruhe darstellte, und dass die Benennung dann auch auf das Grölen und Lärmen von Besoffenen, die spät nachts durch die Gassen zogen, übertragen wurde. Deshalb steht dann im Wörterbuch der Tiroler Mundarten von J. Schatz der Ausdruck psoffne mettn.

Bei manchen Wörtern wissen wir nicht, wie sie in unsere Sprache gekommen sind: über das Alpenromanische, über italienische Dialekte oder direkt aus dem Spätlateinischen. So ein Beispiel ist spiiglin. Es kommt vom lateinischen spica, Ähre, und spiiglin bedeutet nichts anderes als ‘Ähren auflesen’; es gibt Nordtiroler Dialekte, in denen es ëichern heißt. Da es auch im Italienischen ein spigolare mit derselben Bedeutung gibt, könnte es auch später übernommen worden sein. Das Wort hatte deswegen eine große Bedeutung, weil es mit einem alten Brauch verbunden war: nach Abschluss der Ernte durften arme Leute, die selber keinen Grund besaßen, auf den Äckern und Obstwiesen der Bauern die Ähren und die hängen gebliebenen Früchte einsammeln, eben spiiglin giën.

Die Speennoodl, bei der auf den ersten Blick niemand sagen würde, dass das Wort lateinischen Ursprungs ist, ist schon im frühen Mittelalter ins Althochdeutsche übernommen worden. Aus lateinisch spinula wurde ahd. spënula, mhd. spënel. Da man nicht mehr wusste, dass spina Nadel bedeutete und spinula kleine Nadel, hat man an den ersten Teil noch einmal Noodl drangehängt, sodass unser heutiges Wort draus wurde, das mit dem in der Tierhaltung gebräuchlichen speen(in) nichts zu tun hat.

“Technische” Wörter, wenn man so will, sind Fuuge und Ggloggspeise, die auch nicht so aussehen, als würden sie aus dem Lateinischen kommen. Aber Fuuge ist nichts anderes als eine Verkürzung von Zentrifuge, aus lateinisch centrifuga, womit eine Maschine bezeichnet wurde, die sich die Fliehkraft zunutze macht. Es ist oft so, dass unbetonte Silben am Anfang von Wörtern wegfallen, sodass aus Zentrifuge leicht Fuuge werden konnte, so wie Fisëile zu Sëile geworden ist. Letztere dürfte allerdings nicht direkt aus dem lateinischen phaselus übernommen worden sein, sondern aus einer romanischen Volkssprache. Die Ggloggspeise hingegen kommt von lateinisch expensa, das mit dem italienischen spesa verwandt ist und neben der ursprünglichen Bedeutung ‘Ausgabe für Essen’ auch die von ‘Material’ oder ‘Materie’ haben konnte, weshalb im Hochdeutschen auch noch das Wort Mauerspeis für Mörtel vorhanden ist. Und wenn wir diesen im Dialekt Malte heißen, so haben wir das Wort wahrscheinlich aus dem Italienischen übernommen, aber es ist ein altes griechisches Wort, denn maltha nannten die Griechen ein Gemisch aus Teer und Pech, mit dem sie ihre Boote imprägnierten.

Das Wort fulgo, das so viel bedeutet wie ‘allgemein, im Volksmund’, dürfte aus dem Latein der Gelehrten kommen und ist eben in Fulgonoomin enthalten.

Wir sehen also, dass das, was man von den Sprachen allgemein sagt, nämlich dass sie in sich mehrsprachig seien, auch auf den Dialekt zutrifft.