Dialekt und anderes
Franz Lanthaler
krånker und ggfrourner
Alte Form, neue Bedeutung
In der Befragung zum “Sprechenden” Südtiroler Dialektatlas
Scheutz, Hannes (2016): Insre Sproch. Deutsche Dialekte in
Südtirol. Bozen.
waren die
Formulierungen “Sie ist krank heimgekommen” und “Fischstäbchen muss man
in gefrorenem Zustand anbraten” zu übersetzen.
Hannes Scheutz erklärt die Wortformen, die sich aus den entsprechenden
Antworten im Dialekt ergeben: Si isch khrɔnkhr hoamkhemen und die
Fischstäbchen muass man decht gfrournr onbrootn
Hier in der Schreibung von “Insre Sproch”; im Folgenden sind die
Dialektwörter wie im Passeirer Wörterbuch geschrieben.
(S. 122). Der
Dialekt hat sich hier einen Sprachstand erhalten, den die Hochsprache
längst aufgegeben hat. Früher hatte das Adjektiv auch dann die dem
Geschlecht und Fall des Substantivs entsprechende Endung, wenn es nicht
direkt diesem beigefügt war. Während wir heute sagen: “Ein großer Mann”,
aber “der Mann ist groß”, hieß es früher einmal auch im letzten Fall
“der Mann ist großer”. Nun sagen wir das auch im Dialekt nicht mehr,
aber die Form mit der Endung -er hat sich im Dialekt auch dort
erhalten, wo die Standardsprache sie nicht mehr hat, wie die obigen
Beispiele zeigen.
Diese Wortform ist zwar lautlich identisch mit der des beigefügten Adjektivs bei männlichen Substantiven a krånker Mentsch, aber ihr Gebrauch ist ein ganz anderer, weshalb es dafür in der traditionellen Grammatik auch keine Definition gibt, weil es sich dabei weder um ein beigefügtes Adjektiv noch um ein Adverb handelt. Da die Form auch im Dialekt im Verschwinden begriffen scheint, möchte ich an einem netten kleinen Gedicht von Walther von der Vogelweide kurz erklären, wie es dazu kommen konnte.
In dem Text Man seit mir ie von Tegersê
Walther von der Vogelweide: Gedichte. Mittelhochdeutscher Text und
Übertragung, hg. von Peter Wapnewski. Fischer 1962.
erzählt Walther von einem
Besuch im Kloster Tegernsee. Er habe immer wieder gehört, dass das
Kloster einen sehr guten Ruf habe, was für Fahrende so viel hieß wie,
dass man dort großzügig bewirtet wurde. Er macht also einen großen
Umweg, um sich dessen zu vergewissern, tadelt sich dann jedoch selber,
weil er nicht zum ersten Mal auf andere Leute hereinfalle. Denn danach
kommt die ernüchternde Bilanz:
ich nam dâ waʒʒer
alsô naʒʒer
muost ich von des münches tische scheiden.
Er hat also zum Essen statt Wein nur Wasser bekommen. Für unser Thema
ist die entscheidende Aussage alsô naʒʒer
. Um 1200 wurde dieses naʒʒer
noch als ‘ich Nasser, ich als ein Nasser’ verstanden, von Walther sicher
noch witzig gemeint: ‘als Begossener’ habe er vom Tisch des Klosters
weggehen müssen. Hier ist die Form noch auf ein männliches Substantiv,
in diesem Fall eine männliche Person, beschränkt.
In dem Epos Iwein
von Hartmann von Aue, etwa aus derselben Zeit, findet
sich die Zeile: … wær dâ tôter gesehn
. Hier ist tôter
ebenso zu
interpretieren wie oben naʒʒer
, nämlich ‘(er) sei da als Toter gesehen
worden’.
Heute würden die beiden einschlägigen Zitate lauten: ‘so, in nassem
Zustand, musste ich vom Tisch des Klosters weggehen’ bei Walther, und
‘man habe ihn da tot liegen sehen’ im Iwein
.
Als das Adjektiv in diesen Positionen nicht mehr mit dem Substantiv übereinstimmen musste, hat man diese Form neu interpretiert und nicht mehr an das Substantiv angepasst. Im Standard steht jetzt die endungslose Form, die den Zustand des Subjekts oder Objekts zum Zeitpunkt des Geschehens beschreibt, deshalb oben “krank heimgekommen”. Im Dialekt jedoch hat man eine Äußerung wie die obige neu interpretiert und hätte dann gesagt i pin nåsser fin Kloaschtertisch aweckgångin. Damit war eine neue grammatische Form geboren, die sich bis in unsere Tage erhalten hat.
Im Dialekt gilt die Form mit -er jetzt für alle drei Geschlechter und für Einzahl und Mehrzahl. Wenn uns bei der Feldarbeit der Regen überraschte, kamen meine Schwestern genauso nåsser heim wie wir Männer, ja wir kamen alle platschnåsser heim. Eine Frau erzählt von der Nachbarstochter når ische reariter zi miër kemmin (dann ist sie weinend zu mir gekommen), und einer, der jemandem so richtig seine Meinung gesagt hat, berichtet zem ischer lai mear stuuzschnålliter aweck (dann ist er nur noch beschämt abgezogen). Im Dialektatlas haben die Passeirer Gewährsleute entsprechend geantwortet sii isch krånker huëmkemmin. Im Wörterbuch haben wir das Beispiel er isch stiëniter pan Puudl zuëchn inggschloofn und miër hoobm stiëniter gessn. Wie wir sehen, bleibt die Endung jetzt immer dieselbe, gleichgültig, welchen Geschlechts und welcher Zahl das Substantiv ist, auf das sich das Wort bezieht. Und, wie man sieht, gilt das natürlich auch für Partizipien. Diese Form kommt natürlich nicht nur in unserem Dialekt vor und nicht nur in Südtirol, sondern in vielen bairischen Dialekten. Man denke nur an das etwas andere Weihnachtsgedicht von H. C. Artmann auxofana r undan gristbam (total besoffen unterm Christbaum) im Wiener Dialekt. Hier ist also die ehemalige Form für die männliche Einzahl des Adjektivs erstarrt und hat eine neue Aufgabe im Satz übernommen – allerdings nur im Dialekt. Und vielleicht nicht mehr sehr lange. Allerdings haben bei unseren Aufnahmen zum “Sprechenden” Dialektatlas (2014/15) auch die meisten der jüngeren Befragten das obige Beispiel noch mit kranker huëmkemmin übersetzt.