Dialekt und anderes

Franz Lanthaler


Neue Rechtschreibung, alte Leier

oder von der Orthoschizophrenie einer Nation

Die Nachricht dieses Sommers war nicht die Neonazigefahr, auch nicht die Kursk-Katastrofe, schon gar nicht die Nachricht, dass Reinhold Messner nach Südamerika auswandern will (wer hat ihm das schon abgenommen!) oder dass Frau Dr. Müller Autoscheiben einschlägt (natürlich nur um Hunde wieder zu beleben). Das waren Schlagzeilen für einige Tage. Nein, die Nachricht, die das Sommerloch wirklich gefüllt hat, war die Ankündigung der FAZ, sie werde zur alten Rechtschreibung zurückkehren.

Wie sie sich da alle ins Zeug gelegt haben! Herr Nonnenmann von der FAZ hat die Prozession angeführt und der Nobelpreisträger Grass und sein Intimfeind Reich-Ranicki haben sich gleich hinter ihm Hand in Hand eingereiht. Auch prominente Politiker haben ihre Stimme erhoben, in der (wohl berechtigten) Befürchtung, sie könnten die rührenden Worte, welche sie ihren Freunden am offenen Grab nachschicken, in der neuen Schreibung nicht mehr so gefühlvoll ablesen. All diese Leute haben die Neuregelung, deren Umstellung sie zunächst mit allen Kräften behindert haben, nach zwei Jahren für gescheitert erklärt, obwohl sie auf sieben Jahre angesetzt war. Dass das nicht seriös ist, werden die Herren selber kaum bestreiten können.

Auch in Südtirol war der Nachhall zu hören, allerdings eher zaghaft. So gibt es zumindest einen Dolomitenjournalisten, der uns die ganze bundesdeutsche Brühe immer wieder aufwärmt, und auch der ("so genannte") Herausgeber der "Tageszeitung" hat sich diesmal zu Wort gemeldet, um der Informationspflicht Genüge zu tun. Er hat dabei von "den Herren und Damen der Korrektur" gesprochen. Ich lese die Zeitung nur sehr sporadisch, gerade weil ihr noch regelmäßiger als den meisten anderen lokalen Printmedien alle Fälle davonschwimmen, aber ich habe in diesem Blatt bisher weder etwas von der alten noch von der neuen Rechtschreibung entdecken können. Das sprachliche Erscheinungsbild des Blattes legt eher nahe, dass hier entweder die Redakteure oder die Korrektoren überflüssig sind. Die Korrekturen handhaben die Herrschaften von der Presse so wie so ziemlich alle sehr lasch, muss ich feststellen. Aber sie ereifern sich, wenn es um die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung geht.

Ich kann dieses ganze Theater nicht ernst nehmen. Zuerst hat die Gegnerschaft der Neuregelung vor allem die Kosten der Umstellung ins Feld geführt; jetzt würden sie uns plötzlich die Kosten gleich ein zweites Mal aufladen, wenn sie nur zu der von ihnen ach so sehr geliebten und in den meisten Fällen mangelhaft beherrschten alten Schreibung zurückkehren könnten. Sie führen immer nur die (vermeintlichen) Unsinnigkeiten der jetzigen Schreibung ins Feld, nie die der alten. Für jeden Unsinn der neuen Schreibweise führe ich ihnen gern zehn der alten an. Sie berufen sich vor allem auf den schwer zu regelnden "und sicher nicht immer ideal geregelten" Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung. Sie vergessen, wie unsicher und unsinnig gerade diese Schreibungen vorher geregelt waren. Dass dies, wie Untersuchungen zeigen, ein Bereich ist, der in der Skala der Fehlerauffälligkeit ganz am Ende steht, interessiert sie nicht.

Was mich als Lehrer an der Diskussion am meisten stört, ist die Gleichgültigkeit dieser Kreise gegenüber der besseren Lehr- und Erlernbarkeit der neuen Schreibung. Wer etwas davon versteht, weiß, dass die deutsche Rechtschreibung Schülerinnen und Schülern so wie so viel zu früh zu viel Grammatikverständnis abverlangt. Wenn Marcel Reich-Ranicki sagt, dass er nichts mehr lernen wolle, so mag das für ihn in Ordnung gehen (meine ganz subjektive Meinung: Er hat auch aus der vielen Literatur, die er gelesen und seinen Landsleuten wortreich kommentiert hat, nicht allzu viel gelernt, wie nicht nur sein Umgang mit Frauen zeigt).

Nun mögen Leute meinen, dass einer wie Günther Grass, der den Nobelpreis fürs Schreiben bekommen hat, etwas davon verstehen müsse. Aber man bedenke: Er hat den Preis nicht für die Rechtschreibung bekommen. Ich muss überhaupt staunen, wie unsensibel und uninformiert viele Schriftsteller sich in dieser Hinsicht präsentieren. Dass viele Presseleute der Desinformation aufgesessen sind, die sie selber betrieben haben, mag ja noch angehen, von den Dichtern und Denkern der Nation hätte ich mir etwas anderes erwartet.

Natürlich gab es auch Lehrer, die hier nicht zurückstehen wollten. So hat der Vorsitzende eines deutschen Lehrerverbandes befürchtet, man würde bald keine bewertbaren Diktate mehr schreiben können. Wenn das seine größte Sorge ist! In vielen deutschen Lehrplänen hat man anscheinend von der Nutzlosigkeit, ja Gefährlichkeit dieser Diktatwut noch nicht Notiz genommen. Noch trauriger ist allerdings die Tatsache, dass viele Lehrer/innen sich immer noch nicht von einer fehlerorientierten Didaktik und Bewertungsmethode verabschiedet haben. Sie sollten einmal sehen, was ihre Nachbarn, z. B. die Schweizer, auf diesem Gebiet so leisten.

Dass die neue Schreibung Varianten zulässt und gewisse Freiheiten gewährt, ist doch einer der Pluspunkte. Außer Zweifel steht ja, dass Rechtschreibung der Verständigung dient und auch unser ästhetisches Empfinden anspricht. Und gerade die Umstellung hätte die Chance geboten, zu reflektieren, dass es sich um eine Konvention handelt und nicht um festgeschriebene Sprach- oder gar Naturgesetze.

Wie dem auch sei: Bei keiner Nation außer der deutschen ist eine Debatte in dieser Form vorstellbar. Die Tatsache, dass in der Schweiz sich niemand gerührt hat und in Österreich gerade noch ein paar versprengte Schriftsteller, ist ein Zeichen dafür, dass wir die Deutschen in Deutschland mit ihren Problemen mit der Obrigkeit ruhig allein lassen, mit unserer sachlichen Art, die neue Rechtschreibung umzusetzen fortfahren und uns im Übrigen wieder ernsteren Dingen zuwenden können.

Dieser Artikel wurde in “forum schule heute” 2000 (Heft 4) veröffentlicht.