Dialekt und anderes
Franz Lanthaler
Das Präfix der- im Dialekt des Passeiertales (1. Teil)
dertroogn, dertian, derschloogn
Zu dem multifunktionellen bairischen Präfix der-, zu dem es inzwischen eine Reihe von Arbeiten gibt, habe ich bereits in meiner Dissertation (Lanthaler 1971, Innsbruck, Ms, 164–175) einiges geschrieben. Zumal mein damaliges Thema die Morphologie der Verben war, habe ich Fragen der Syntax und Semantik nur gestreift. Und weil mir jetzt, wo ich in der Diaspora lebe, manche Arbeiten nicht zugänglich sind, beziehe ich mich in diesem 1. Teil meiner Arbeit, in dem es nach einer Einführung in die Problematik ausschließlich um das modale Präfix geht, zusätzlich zu meinen Notizen von damals in erster Linie auf die beiden einschlägigen Arbeiten von Barbara Sonnenhauser und Wolfgang Tessadri Herrn Tessadri möchte ich für das Überlassen seines Manuskripts ganz herzlich danken, ebenso Frau Birgit Alber für die Vermittlung des Kontakts und für gute Ratschläge. .
Sonnenhauser (2012) untersucht Bildung, Verwendung und Bedeutung des modalen der- im mittelbairischen Dialekt in der Gegend von Traunstein. Tessadri überprüft in seiner Bachelorarbeit (Ms.) anhand einer Südtiroler Stichprobe, ob die Befunde aus Sonnenhausers Studie sich auch an südbairischen Varietäten bestätigen lassen. Stärker als diese differenziert er dabei bestimmte aspektuelle Kategorien bei den für die Derivation geeigneten Verben und setzt sich auch ausführlicher mit der Einteilung derselben bei Eichinger auseinander. In beiden Arbeiten wird auf eine frühe Erörterung des Präfixes von Sieglinde Schabus an einem Südkärntnerischen Dialekt verwiesen, bei welcher sich eine Kategorisierung aller der-Verben findet.
Sonnenhauser geht von einer Zweiteilung der der-Derivationen im Bairischen aus, indem sie zwischen solchen, die mit den standardsprachlichen Präfixen er-, ver- und zer- übereinstimmen, und solchen, die dies nicht tun, unterscheidet. Diese teilt sie wieder in zwei Gruppen: Eine lexikalisierte Gruppe mit reflexiven, transitiven und intransitiven Verben. Beispiele: si derrennen (zu Tode kommen), derkommen (erschrecken) und derbröseln (schwer stürzen). Nach Sonnenhauser weisen die Verben dieser Gruppe grundlegend andere syntaktisch-semantische Eigenschaften auf als jene mit standardsprachlicher Entsprechung. Nach Merkle (1976,84) gehört einer zweiten Gruppe ohne standardsprachliche Entsprechung eine “endlose Zahl” an Verben an, für deren Bildung es keine festen Regeln gebe, da sie vom Sprachgefühl des einzelnen Sprechers abhänge. Ob dies zutrifft, will Sonnenhausers Untersuchung klären.
Ich möchte diese (zweifache) Zweiteilung nicht einfach übernehmen, sondern gehe von der Hypothese aus, dass alle der- bairisch sind, denn man kann ja nicht von vorneherein unterscheiden, ob eine solche Bildung eine angepasste Übernahme aus dem Standard oder eine eigenständige Parallelbildung darstellt. Auch könnte ein Kommentator beim Schirennen den schweren Sturz eines Läufers mit einer bildhaften Rückübersetzung kommentieren und sagen “es hat ihn zerbröselt” (zu Brotkrümeln zerkleinert), und dann hätten wir nach obiger Einteilung eine zer-Entsprechung.
Fraglos gibt es hier unzählige Parallelen und natürlich liegen auch vielen der-Verben standardsprachliche Derivationen zugrunde, aber es gibt bei genauerer Betrachtung auch unübersetzbare Fälle und es ergeben sich Unschärfen, wenn man das bairische Präfix mit den genannten standardsprachlichen gleichsetzt. Dies gesteht Sonnenhauser (2012,70) ja auch ein. Schon allein beim modalen der- gibt es Lexikalisierungen, die mit standardsprachlichen Elementen nicht adäquat wiedergegeben werden, die man also nur umschreiben kann. Wenn von den 101 der-Verben bei Zehetner Zählung von F.L. (2005,94/95) 28 nicht einer der üblichen Standardpräfixbildungen zugeordnet werden können, bedeutet dies, dass der- abseits von diesen standardsprachlichen Entsprechungen produktiv geworden ist. Was das ver- im Dialekt des Passeiertales betrifft, erscheint ein Ersatz durch der- überflüssig, wenn man bedenkt, dass in unserem Passeirer Wörterbuch Haller/Lanthaler 2004, 2. Auflage in Vorb. über 100 Verben mit fer- verzeichnet sind, wobei wir nur solche aufgenommen haben, die lexikalisch, semantisch oder morphologisch von den Standarbildungen abweichen. Wenn also nach Sonnenhauser (2012,70) und Merkle (1976,82) der- den größten Teil von er- ver- und zer- ersetzt, so kann ich das für den hier untersuchten Dialekt schon einmal ausschließen.
Allein schon das bei Schabus als “intensiv” charakterisierte der-, das in meinem, aber auch in den übrigen Südtiroler Dialekten sehr produktiv ist, spricht gegen die von Sonnenhauser vorgenommene Zweiteilung, welche zwischen dem als “bairisch” eingestuften modalen der- und allen übrigen Varianten des Präfixes unterscheidet, die dann einfach standardsprachlichen Präfixen entsprechen sollen Eine Formulierung im Abstract zu Sonnenhausers Artikel suggeriert sogar, dass es ein standardsprachliches Präfix der- gebe, indem unterschieden wird “between a specifically Bavarian use of der- and one that corresponds to the Standard German usage of the prefix”. .
Tessadri arbeitet Übereinstimmungen mit und Unterschiede der Südtiroler Stichprobe zu den Befunden von Sonnenhauser im Mittelbairischen sehr fein heraus, doch da die konservativen Taldialekte dabei kaum berücksichtigt werden, möchte ich im Folgenden die der-Derivationen in einem solchen Dialekt in Bezug auf ihre Bildung und die Leistung einzelner Kategorien untersuchen, und zwar im Dialekt des Passeiertales, eines von Meran zunächst nach Nordosten und dann weiter nach Norden gegen das Ötztal hin verlaufenden Seitentales des Etschtales.
Trotz der oben beschriebenen inhaltlichen Einschränkung habe ich in meiner Dissertation fünf Typen von Derivationen mit der- unterschieden und das modale der- als ersetzbar durch ‘inschtɔnt sain BV’ beschrieben. Dass das korrekter ist als es mit ‘können’ zu umschreiben, kann man am Beispiel dergian zeigen, welches auch bei jemandem, der noch gehen kann, negiert auftreten kann, wobei es dann allerdings aussagt, dass jemand ’nicht so schnell, so weit oder so steil auf- oder abwärts gehen kann’. Sonnenhauser (2012,65) formuliert dies folgendermaßen: “Es handelt sich dabei um eine spezifische Form der dynamischen Modalität: Um zirkumstanzielle Modalität, das heißt, die Fähigkeit eines Subjekts, angesichts bestimmter situationeller Gegebenheiten eine Handlung bis zu einem bestimmten Endpunkt hin erfolgreich auszuführen.” Weiters stellt sie fest, “dass können und der-Verben nicht äquivalent sind, sondern einen Überschneidungsbereich aufweisen …” (2012,85).
Obwohl ich meinen Ansatz von 1971 immer noch für gültig halte, erlauben mir nun die Darstellungen von Sonnenhauser und Tessadri die der-Derivationen in der von mir untersuchten Varietät präziser zu analysieren.
Zur Datengrundlage
Die “normale” wissenschaftliche Praxis ist die Datenerhebung mithilfe von Fragebögen oder Interviews – wie soll man auch sonst an Daten kommen? Mit schlechtem Gewissen habe ich deshalb als Dialektsprecher meine aktive Kompetenz eines bestimmten Dialekts als Grundlage für meine Arbeiten genommen. Nachdem ich jedoch viele Interviews zu meinem wie zu anderen Dialekten gemacht habe oder an solchen beteiligt war u.a. bei Scheutz 2016 , bin ich zur Überzeugung gelangt, dass die Datenerhebung auf dem traditionellen wissenschaftlichen Weg ebenso viele Fehlerquellen birgt wie das Vertrauen in die eigene Kompetenz. Außerdem habe ich einige Male festgestellt, dass eigene Bewertung und Sprachverhalten der Probanden nicht immer übereinstimmen (siehe In Laitnin, der Annins ). In meinem Plan, einen Dialekt von innen heraus zu beschreiben, hat mich neben den Ratschlägen linguistischer Freunde auch das bestärkt, was Mark. L. Louden in seiner Rezension der Syntax des Bairischen von Helmut Weiß Language Volume 76, number 3, 2000, 724 sagt, dass nämlich die Vernachlässigung der Dialektsyntax u.a. darauf zurückzuführen sei, dass es zu wenige Forscher gebe, die sowohl Native Speakers als auch theoretisch beschlagen seien. Ich verlasse mich also weiterhin getrost auf meine Kompetenz und das von mir und Harald Haller gemeinsam verfasste Wörterbuch In den Angaben beziehe ich mich auf die derzeit für die Veröffentlichung vorbereitete 2. Auflage. mit den vielen im Tal gehörten Beispielen, welche alle von kompetenten Sprechern stammen oder von solchen bestätigt worden sind.
Bei der Beschreibung des Präfixes der- kann ich mich außerdem auf die Befragung und die Aufnahmen berufen, die ich im Rahmen meiner Dissertation in den Jahren 1969/70 durchgeführt habe. Diese Daten sind in der Arbeit am Passeirer Wörterbuch bestätigt und noch erweitert worden.
Die Produktivität von der-
Das Präfix Es gibt andere der-, die mit diesem Präfix nichts zu tun haben: derwail, dertsua usw., von denen Ersteres wohl eine erstarrte Genitiv-Fügung mit dem klitisierten Artikel ist, Letzteres mit da(r)- zusammenhängen dürfte. Ein anderes der ist eine Kurzform von durch: an noogl der-n pret durch schloogn (einen Nagel durch das Brett schlagen), der raach geat der-n kheem auchn (der Rauch zieht durch den Kamin hinauf), gea der der khuchl ausn (geh durch die Küche hinaus). schafft verbale Derivationen aus verbalen, adjektivischen und substantivischen Basen: dertroogn (imstande sein zu tragen) zu troogn, derschwɔchn (schwach werden) zu schwɔch, und derleegern (Gras niederwalzen, im Gras oder Getreide Lagerstellen machen) zu leeger. Adjektive oder Nomen mit dem Präfix sind wiederum Derivationen aus den entsprechenden Verben: derwischilus (Fangenspiel) zu derwischn, dergiibik (ergiebig) zu dergeebm, derlatert (im Verfall begriffen) zu derlatern. Es gibt einige Pseudopartizipien wie dertɔtert (verdattert), die unmotiviert erscheinen, die jedoch einer Kategorie von der- zuzuordnen sind, was beweist, dass das Präfix auch in der Adjektivbildung produktiv ist.
Es gibt keine phonetischen oder morphologischen Restriktionen für dieses Präfix: 1971 war ich noch der Meinung, das Präfix könne nicht in Kombination mit einer Reihe nicht-trennbarer Präfixe auftreten; dieser Meinung bin ich nicht mehr. Die Derivationen, auf die ich mich dabei bezog, ließen das modale der- aus semantischen Gründen nicht zu. als unbetonte Silbe kann es sowohl an betonte als auch an unbetonte Silben stoßen, auch an Präfixverben kann es treten, und zwar tritt es bei untrennbaren Präfixverben vor das feste Präfix, z.B. “ii dergiwerbm-mi nit (ich kann mich nicht erwärmen)” (Lanthaler 1971,165) und bei trennbaren Präfixverben kann es als Infix zwischen das trennbare Präfix und das Simplex treten: i pin-s felik nit auderwɔchn (es wollte mir fast nicht gelingen wach zu werden; ich habe nur mit Mühe wach werden können), und hɔsch-is nit inderhengk? (ist es dir nicht gelungen es einzuhängen?). Selten tritt das Präfix vor fer-Derivationen auf. Bei der Verbklammer bleibt der- fest am Verb, während das trennbare Präfix ans Satzende rückt: “wenn-si-s auderschtantn (wenn sie aufstehen könnten Eigentlich: ‘Wenn sie sich entschließen könnten aufzustehen.’ Zur epistemischen Modalität von der- siehe unten. ) – sii derschtian-s nit au (sie schaffen es nicht aufzustehen)”. (Lanthaler 1971,165)
“Das modale der- kann an BV aller Valenzgrade treten, auch wird die ‘semantische’ Valenz durch dieses Präfix nicht verändert; ist das BV jedoch intr., so erscheint ihm gegenüber die Ableitung um eine strukturelle Stelle, nämlich um das unpersönliche es erweitert …: eer derhukht-s nit, eer derschteat-s nit (er ist nicht imstande zu sitzen, zu stehen) …” (Lanthaler 1971,165)
Manche Derivationen erlauben mehrere divergierende Lesarten. So kann jemand an houf derɔrbitn (imstande sein einen Hof zu bearbeiten) oder an pail schiach derɔrbitn (ein Beil übel zurichten). Es gibt aber auch Derivationen, bei denen eine semantische Komponente ob ihrer Dominanz alle alternativen Lesarten verhindert: das lexikalisierte derfintn (erfinden) lässt ein ‘imstande sein zu finden’ nicht zu. Andererseits gibt es Verben der Wahrnehmung, wie derschpeechn (erspähen) und derglikhnin (durch einen glücklichen Zufall finden), über die noch die Rede sein wird. So ist auch das bei Sonnenhauser erwähnte derbetteln (2012,71) in dem hier beschriebenen Dialekt zwar als Manner-of-Obtainment-Verb, im Sinne von ‘durch Betteln an sich bringen’, vorstellbar, aber es wird nie so gebraucht, sondern derpetlin tritt nur als Intensivum ‘jmdn heftig anbetteln’ auf. Anders bei dem bei Sonnenhauser an derselben Stelle erwähnten derheiraten, das nur den ‘Erwerb durch Heirat’ denotiert Ein Zitat bei Zehetner (2009,36): Wennst nix daheiratst und nix irbst …, bestätigt dies auch für das Mittelbairische. .
Das modale der-
Da man die übrigen der- auf die oben erwähnten standardsprachlichen Entsprechungen zurückführen zu können glaubte, gewann das modale der-, das mit ‘imstande sein die vom BV Ich bediene mich hier der üblichen und auch bei Tessadri gebrauchten Abkürzungen: BV = Basisverb, BA = Basisadjektiv, BS = Basissubstantiv. bezeichnete Aktion durchzuführen’ grob wiedergegeben werden kann, die Bedeutung eines urbairischen Elements.
Ich hatte geschrieben: “Das Präfix wird durch die Wendung inschtɔnt sain tsi BV (imstande sein zu BV) ersetzt; manchmal kann statt des Präfixes auch die Umschreibung mit können stehen: eer derhukht-s nit schtile (er ist nicht imstande stillzusitzen), er derschteat-s nit Die zitierten Beispiele sind in der Schreibung den übrigen Beispielen in diesem Text angepasst. (er kann nicht (aufrecht) stehen); das erste Beispiel meint, daß die innere Unruhe etc. jn. nicht stillsitzen lasse; das zweite, daß j. (z.B. ein Kind) nicht die Fähigkeit habe, aufrecht zu stehen. Welche dieser beiden Modalitäten die Präfixableitung im Einzelnen bezeichnet, hängt vom Kontext und von der Semantik und Struktur des BV ab.” (1971,164f.)
Das ist bei Sonnenhauser (2012,65) nun präziser gefasst, indem sie feststellt, dass das Präfix zirkumstanzielle Modalität denotiert, “das heißt die Fähigkeit eines Subjekts, angesichts bestimmter situationeller Gegebenheiten eine Handlung bis zu einem Endpunkt hin erfolgreich auszuführen” .
Die wichtigsten Befunde ihrer Arbeit sind, dass das Präfix transitivierend ist und dass es immer die Komponenten “Fähigkeit, Versuch und Resultat” beinhaltet. Demnach denotiert das Präfix “einen auf ein Ziel ausgerichteten Pfad, wobei das Objekt die Art der zu überwindenden Hindernisse angibt.” Das bedeutet, dass alle der-Verben telisch und inkrementell sind. Nach Sonnenhauser – und Tessadri – erhalten auch nicht-inkrementelle BV durch das Präfix eine Begrenzung, werden also auf ein Resultat ausgerichtet. Am Beispiel “die Kiste dertragen” wird expliziert, wie das Zusammenspiel der Komponenten hier verstanden wird: Das Objekt “Kiste” gibt die Art des Hindernisses an “Gewicht” an, das auf einer qualitativen Skala liegt. Mit dem Beispiel “es eine Stunde lang derstehen” wird demonstriert, dass auch intransitive BV durch das Präfix in diese Kategorie befördert werden, wobei das “es” als referenzielles Pronomen sich auf das Ereignis als Objekt bezieht. In diesem Sinne werden auch alle intransitiven Verben durch das modale der- transitiv.
Tessadri kommt anhand seiner Befragung zum Schluss, dass die von Sonnenhauser für das Altöttingische entwickelten Kategorien für das modale der- auch auf die von ihm untersuchten Dialekte in Südtirol anwendbar sind, mit einigen Abstrichen, wie wir unten sehen werden.
Was bei dem von Tessadri angestellten Vergleich auffällt, ist, dass bei den Südtiroler Probanden Verben wie dersingen, derschlafen, derliegen bedeutend höhere Akzeptanzwerte aufweisen als bei den mittelbairischen Gewährspersonen und dass hier sogar derbleiben teilweise akzeptiert wird, welches in Altötting ganz ausscheidet.
Bedeutend einschneidender jedoch ist die Tatsache, dass die mittelbairischen Probanden die Kombination von “können” und der- generell zulassen Dies scheint nicht für alle mittelbairischen Dialektregionen zu gelten, denn Zehetner (2009,42-43) erwähnt die Kombination nicht und bringt neben Beispielen ohne können nur das eine mit dem Modalverb: “Er ko sein Geburtsdog kaam dawartn”. Das ist allerdings auch eine Standardredewendung. , während die Südtiroler dies sehr einschränken.
Ich möchte im Folgenden untersuchen, ob das, was Sonnenhauser in einer kleinen Region im Mittelbairischen und Tessadri bei einer mehr oder weniger auf den Bozner Raum beschränkten Probandengruppe feststellen, auch auf meinen konservativen Südtiroler Taldialekt übertragbar ist.
Die vielen modalen der-
Wie bereits gesagt, scheinen die Bedingungen für die Verwendung des modalen der- im untersuchten Dialekt weitgehend mit denen in der zitierten Literatur übereinzustimmen: dass es sich um Ereignisse handelt, bei denen ein Subjekt befähigt ist (oder nicht) über Hindernisse zu einem positiven Ergebnis zu kommen. Es trifft weiters zu, dass auch in dieser Varietät modale der-Verben aus transitiven Simplizia bevorzugt werden. Die bei Tessadri wiedergegebenen Basisprädikate, die nach Primus und Eisenberg “Basisrollen an ihre Argumente vergeben” (Eisenberg 2013,71, zit. nach Tessadri 36), ermöglichen es eine Präferenzskala für der-Derivationen zu erstellen, wobei Tessadri meint, dass vor allem die ersten drei, also Kontrolle, Verursachung und physische Bewegung eine besondere Rolle spielen. Tessadri (15) gibt die Verbklassen und deren Eigenschaften nach Vendler (1967) in einer Tabelle wieder, nämlich als: “Statives, Activities, Accomplishments, Achievements”.
Am Beispiel von “ermorden” und “töten” erklärt er, warum Ersteres (intentional, Kontrolle) ein Mehr an Agentivität vergibt als das Zweite (Verursachung), da dieses auch nicht-intentional möglich ist. Das kann man an dem hier besprochenen Dialekt nicht gut ausprobieren, denn dermordn ist nur ein Standardwort in Dialektlautung und töten muss man mit umpringin übersetzen; aber auch bei den Synonymen dieser Verben kommt ja die modale Komponente nicht ins Spiel.
Eine wesentliche Restriktion für die Bildung von modalen der-Verben ist nach Sonnenhauser das Fehlen eines intentionalen Agens als Subjekt – oder eines, das zumindest als solches konzipierbar ist –, was bei punktuellen Verben nicht der Fall ist, sodass Verben wie “*derstolpern, *derplatzen, *derfinden” (2012,75) nicht in Frage kommen. Wenn jedoch “derliegen” (a.a.O., 76) von ihren Probanden als fragwürdig eingestuft wird, tut sich zu den Befunden in der hier untersuchten Varietät ein Unterschied auf, denn zu liign ist hier sehr wohl ein intentionales Subjekt denkbar: Jemand kann zwar liegen wollen, aber es aus objektiven (Schmerzen, Unterlage) oder aus epistemischen Gründen (innere Unruhe) nicht schaffen. Ja, gerade am Beispiel liign wird sich zeigen, dass das Konzept im Gebrauch des Passeirer Dialekts sehr dehnbar gehandhabt wird.
Wenn wir uns nun Beispiele für häufige Derivationen in dieser Varietät ansehen, wird sich zeigen, dass das modale der- nicht ganz nach dem oben entworfenen Schema produktiv wird. Freilich bilden transitive Aktionsverben sehr häufig die Basis:
tsiachn – den schliitn dertsuicht lai a ros
ziehen – diesen Schlitten kann nur ein Pferd ziehen
fuarn – dee gɔasl derfuart nit aniader
handhaben – diese Peitsche ist nicht jeder imstande zu schwingen
Aber auch Verben, die nach dem obigen Schema als weniger wahrscheinliche Kandidaten fungieren würden, kommen nicht selten vor:
giwoornin – ii hɔn-s lai nit rechtsaitik dergiwoornt
ich hab es nur nicht rechtzeitig wahrnehmen können
khɔltn – er hɔt in houf ferkhaafm gimiat, ober s haus hɔt-er nou derkhɔltn
er hat den Hof verkaufen müssen, aber das Haus hat er noch behalten können
Alle diese Basisverben sind transitiv; das BV zu dem bereits oben zitierten derɔrbitn kann transitiv und intransitiv gebraucht werden, die Derivation ist selbstverständlich transitiv.
Bei den intransitiven Verben, die transitive Derivationen ergeben, müssen wir zwischen zwei Typen unterscheiden: solchen, die mit der- ein direktes Objekt erhalten, und solchen, die nur mit dem referenziellen es vorkommen. Ein Beispiel für Erstere wäre schraijin:
ii hɔn-in niamer derschriirn
ich habe gerufen, aber ich habe ihn damit nicht mehr erreicht.
Viele intransitive Simplizia eignen sich, wenn mit Richtungsadverbien präfigiert für modale Derivationen:
er isch ni’trauderfoorn
er hat es nicht geschafft, es anzufassen
(Siehe Fußnote In isch ist das es verborgen, das sich auf das Ereignis bezieht, in drau (drauf) steckt die Referenz auf das Präpositionalobjekt; dies kann durch die Ersatzprobe mit Personalformen, die nicht auf einen dentalen Reibelaut ausgehen, nachgewiesen werden: ii pins ni’trauderfoorn, dës saits ni’trauderfoorn (ic h hab es nicht geschafft …, ihr habt es nicht geschafft …). )
Das trifft auch auf durative/stative Verben zu:
wen-si-s dooderpliibm!
wenn sie es schaffen würden dazubleiben!
Dass bei Sonnenhauser der-Bildungen mit “schlafen” und “bleiben” abgelehnt werden, passt zu dem, was oben zu “liegen” gesagt wurde. Zwar würde auch im Passeirer Dialekt derbleiben allein kaum akzeptabel erscheinen, wohl aber dooplaibm, und eine Äußerung wie
i hɔn-s uanfɔch nit derschloofm
ich hab einfach nicht schlafen können
kann man immer wieder hören. Aber auch folgende Äußerungen:
a) wen-er-s dech’terschtarb!
wenn er doch sterben könnte!
b) wersch tuu-s entl schtilederhukhn!?
kannst du endlich einmal stillsitzen!?
Die beiden Derivationen bekommen in den Beispielen eindeutig telischen Charakter, auch wenn hier epistemische Modalität ins Spiel kommt (wie auch oben bei dooderpliibm). In beiden Äußerungen wird die Sprecherhaltung sichtbar: Bei a) ist es die Auffassung, dass der Betroffene gerne sterben würde, aber es eben nicht schafft. Das ist übrigens kein makabres, konstruiertes Beispiel, wie es bei Tessadri angeführt wird, sondern oft gehört, weil Angehörige hoffen, dass eine geliebte Person von ihrem Leiden erlöst wird. Bei b) hingegen ist es die Meinung der/des Erwachsenen, dass das Kind, auch wenn es ihm schwerfällt, den Willen aufbringen sollte, stillzusitzen.
Eine besondere Verwendung des der- ist mir, wie bereits angedeutet, bei liign untergekommen. Zwei Arbeiter überlegen, ob ein Baumstamm an der Stelle, wo er jetzt ist, liegen bleiben kann, und einer sagt schließlich: doo derlik-er-s laicht (hier kann er gut liegen bleiben). Es handelt sich dabei sicher um einen stilistischen Gebrauch des modalen der-, denn gemeint war wohl, dass der Stamm hier ohne Störung oder Gefährdung liegen bleiben könne.
Neben “können” scheiden natürlich auch alle anderen Modalverben für die der-Derivation aus. Wenn ein Modalverb wie lɔsn jedoch mit einem Richtungsadverb präfigiert ist, kann es mit der- erscheinen. Das hat mit der Möglichkeit in diesem Dialekt zu tun, dass Modalverben und modifizierende Verben mit Richtungsadverb eine Bewegung beschreiben, also ein Bewegungsverb ersetzen und die Stelle eines Vollverbs einnehmen. So z.B.
miar hoobm inergiwelt
wir haben herein (-kommen/-fahren/-gehen) wollen.
Dasselbe mit lɔsn:
i hɔn khemin giwelt, ober di muater hɔt-mi nit heegilɔt
ich hab kommen wollen, aber die Mutter hat mich nicht herüber (-kommen)(ge)lassen.
In dieser Funktion ist der-Bildung auch bei lɔsn möglich:
ii schaug, oub ii engkh in mitook miter sɔalpoon auchnderlɔs
ich werd sehen, ob ich euch das Mittagessen mit der Seilbahn hinauflassen (-schicken) kann.
Restriktionen
Tessadri kommt, wie bereits festgestellt, mit den Ergebnissen seiner Untersuchung anhand einer Südtiroler Stichprobe zu einer weit gehenden Übereinstimmung der Möglichkeit der der-Präfigierung, wie sie bei Sonnenhauser für einen mittelbairischen Dialekt erhoben wurde. Allerdings stimmen nicht alle Parameter bei beiden überein. So zeigt der Vergleich der beiden Stichproben, dass die Akzeptabilität für die Kombination des modalen der- mit “können” (Beispiel: Das kann ich nicht der-waschen …) in Altötting bedeutend höher ist als bei der Südtiroler Stichprobe. Außerdem werden in Altötting die Intervall-Stativ-Verben, also Verben, die vorübergehende Zustände notieren, wie “stehen, liegen” usw., im Gegensatz zur Auffassung der Südtiroler Probanden, nicht akzeptiert. Wir haben bereits oben gesehen, dass auch im Dialekt des Passeiertales Simplizia dieser Kategorie durchaus mit dem Präfix kombinierbar sind. Die Kombination von der- mit “können” hingegen bildet in diesem Dialekt eine Tautologie. Zwar nie gehört, aber doch vorstellbar wäre es in einer negativen Aussage, wenn die Unmöglichkeit der Durchführung besonders begründet wird:
den haangkl khɔnsch tuu nit inderhengin, pa den khluan loch
diesen Haken kannst du unmöglich einhängen, bei so einem kleinen Loch!
Hier spielt, wie auch Tessadri bei einem analogen Beispiel vermerkt, epistemische Modlität mit herein. Eher als mit “können” würde dies jedoch mit einer Modalpartikel ausgedrückt:
den haangkl derhengsch tuu jɔa nit in, pa den khluan loch
du schaffst es freilich nicht diesen Haken einzuhängen, bei so einem kleinen Loch.
Wir haben oben gesehen, dass Modal- und modifizierende Verben, wenn sie als Vollverben verwendet werden, mit der- kombinierbar sind. Nun gibt es aber auch andere Verben, die eine Grammatikalisierung zu Modalverben erfahren. Wenn der Bauer das trockene Heu intian (in die Scheune bringen) will, und er schafft es nicht, kann er sagen:
i hɔn-s ni’ tertoon
ich hab es zeitlich nicht geschafft,
falls er es vor dem Regen zeitlich nicht mehr geschafft hat. Er kann aber auch sagen
i hɔn-s nit trukhner ingiproocht
ich hab es nicht trocken in die Scheune gebracht.
Impringin ist hier nicht mit der- kombinierbar, weil es schon Träger der Modalität dieses Präfixes ist. Allerdings ist das nicht nur in solchen Fällen so: Wenn man eine Tür nicht aufbringt, dann “der-öffnet” man sie eben nicht. Wenn jemand einem etwas bringen will, und es gelingt ihm nicht, so kann er auch nicht sagen
*i hɔn-der-s ni’ terproocht
*ich hab es dir nicht derbracht.
Obwohl es sich hier um ein telisches Verb handelt, ist in diesem Fall nur eine Umschreibung möglich. Ich vermute, dass die Häufigkeit, mit der das Verb als Ersatz für der-Derivationen gebraucht wird, verhindert, dass es auch dann, wenn es in seiner Kernsemantik vorkommt, mit dem modalen Präfix kombinierbar ist. Wenn man etwas ein- oder aushängen will, kann man danach sagen
i hɔn-s [nit] in-, austerhengk
es ist mir [nicht] gelungen es ein-, auszuhängen,
oder, mit derselben Bedeutung:
i hɔn-s [nit] in-, auskiproocht.
Das heißt, dass pringin die entsprechende Derivation ersetzt, immer ergänzt durch die zirkumstanzielle Modalität, weshalb es mit der- nicht mehr kombinierbar ist.
Das Agens
Als eine grundlegende Voraussetzung für die Verwendung des modalen der- gilt bei Sonnenhauser, dass das Subjekt als Agens konzipierbar ist. Das wird für die hier untersuchte Varietät durch Beispiele infrage gestellt, in denen auch atmosphärische Erscheinungen, welche ja allgemein unpersönlich konstruiert werden, als Subjekte eines der-Verbs erscheinen können. So steht das Verb tsuarichtn für das Zusammenbrauen eines Gewitters, und man kann Äußerungen hören wie:
wen-si-s tsuaderrichtit, nɔr khimp haint nou a weter
wenn es sich zusammenderbraut, dann kommt heute noch ein Gewitter;
oder beim Schnee:
es hɔt kschniibm, ober es hɔt-n nit oonderlek
es hat geschneit, aber es hat ihn [den Schnee] nicht so hinderlegt, dass er liegen geblieben wäre.
Nicht nur an solchen Beispielen zeigt sich, dass in diesem Dialekt die Atmosphäre oder die Natur, das Schicksal personalisiert erscheinen, denn, wer gefallen ist, der kann zwar einfach gefallen sein, aber viel wahrscheinlicher hat es ihn kschmissn, giworfn (geworfen) usw., wer vom Weg abkommt, den hat es fertroogn (fortgetragen), wer sich eine Zerrung zugezogen hat, dem “hat es eine Sehne aufgeklaubt”. Daher auch:
ii pin oogschlipft, ober es håt-mi nit inhnderhaut
ich bin ausgerutscht, aber es hat mich nicht zu Fall gebracht.
Das unpersönliche “es” erscheint hier als ein mit Absicht und Zielstrebigkeit begabtes Agens, das vor allem für negative Ereignisse verantwortlich gemacht wird. Einmal, als wir in den Mähdern (Bergwiesen) waren und ein heftiges Gewitter aufzog, schickte mich mein Bruder auf den Hof hinunter den Waal oberhalb des Kornackers auszuputzen, denn er hat gemeint:
wen-s-n tsuaderschopit, nɔr geat a muare der-n ɔkher oochn
wenn es ihn der-verstopft, geht eine Mure durch den Acker hinunter.
Hier wird dem Wasser unterstellt, dass es die Rinne verstopfen “will”. Selbstverständlich ist hier nicht das gemeint, was man unter “wollen” normalerweise versteht, sondern der Natur des Wassers wird etwas wie eine Absicht oder ein Plan Gottes oder der Natur unterstellt. Falls man das nicht so sehen will, muss man sich mit der Natur als Agens zufrieden geben, womit für diesen Dialekt eine der wesentlichen Prämissen für das Auftreten des modalen der-, wie sie bei Sonnenhauser und Tessadri definiert sind, fallen würde.
Ambiguität
Tessadri fragt nach der Übereinstimmung zwischen der-Derivationen und den entsprechenden Manner-of-Obtainment-Verben (“Verben der Erwerbung oder Aneignung” bei Schmuck 2004,125), z.B. der-laufen und erlaufen, also “durch Laufen an sich bringen”. Diese Übereinstimmung wird bei den angebotenen Verben “erspielen, erarbeiten, erlaufen” mit großer Mehrheit abgelehnt. Der Autor meint daher, dass die Partikel in Südtiroler Dialekten disambiguierend wirke. Ich würde das für den Passeirer Dialekt nicht von vorne herein annehmen. Zwar würden die obigen Beispiele auch in dieser Varietät eher nur in ihrem modalen Charakter aufgefasst, aber grundsätzlich könnte die Musikkapelle einerseits imstande sein etwas zu spielen, aber sich auch etwas derschpiilt, also ‘durch Spielen in ihre Vereinskasse gebracht’ haben. Wenn diese semantische Komponente kaum in Erscheinung tritt, hat das mit der hohen Frequenz des modalen Gebrauchs bei Verben wie derspielen und derlaufen zu tun. Bei derɔrbitn haben wir bereits gesehen, dass es einerseits durch die modale Komponente, andererseits durch die Komponente “intensiv-iterativ” (bei Schabus auch durch die mit “negativ verändern” definierte Komponente) vorbesetzt ist. Eindeutigkeit wird hier durch die Ergänzung geschaffen, nicht durch das Verb selbst.
Doch finden sich in dem hier beschriebenen Dialekt Verben, die eine Mischung aus modaler und der Erwerbung-oder-Aneignung-Variante aufweisen. Ich denke hier an Verben der Wahrnehmung wie derschpeechn (erspähen), derschmaaln (durch Spionieren herausfinden), welche, besonders in negativem Kontext, stark modal geprägt sind. Da spähen und spionieren alle Voraussetzungen für das modale der- mitbringen, ist hier das Vorherrschen dieser Komponente vor dem “in seinen Bereich, sein Blickfeld, unter seine Kontrolle bringen” anzusetzen, ohne dass diese Komponente jedoch ausgeschlossen würde. Auch bei Verben wie derwɔrtn (erwarten) und derleebm (erleben) bleibt diese Ambiguität aufrecht. Wenn jemand, der lange schon auf das Essen wartet, sagt:
dee khneidl weern miar niamer derleebm
diese Knödel werden wir wohl nicht mehr erleben [= wir werden wohl nicht mehr so lange leben oder warten können, dass wir in den Genuss dieser Knödel kommen],
dann ist hier ebenfalls eine Mischung aus modalem der- und dem der- der Erwerbung oder Aneignung gegeben. Hierher gehört auch das bei Eichinger genannte “derglangen” (erreichen). Es macht dabei keinen Unterschied, ob man etwas im primären, physischen Sinn derglɔngk (durch Sich-Strecken zu fassen kriegt) oder in dem Sinn, wie ihn ein alter Bekannter von mir gebraucht hat:
wen i nou di huirign eertepfl derglɔng, nɔr heib-i-s wider an winter
wenn ich noch die heurigen Kartoffeln erlange [= erlebe], dann schaff ichs noch einen Winter.
Bei Tessadri (28) geht klar hervor, dass von seinen Probanden die Übereinstimmung von der-Verben mit entsprechenden Manner-of-Obtainment-Verben wie “erlaufen, erarbeiten, erspielen” mehrheitlich abgelehnt wird.
Wenn man den Begriff der “Verben der Erwerbung oder Aneignung” weit fasst, gibt es in dieser Kategorie im Passeier eine Reihe von Derivationen aus Verben der Wahrnehmung, wie dergiwoornin, derschmaaln, derschmekhn, derschpɔnin (wahrnehmen, durch Spionieren erfahren, herausfinden,Wind von etwas bekommen), bei denen man jedoch feststellen muss, dass bereits die Basisverben giwoornin, schmaaln, schmekhn, schpɔnin die Wahrnehmung an sich und damit diese Form der Aneignung ausdrücken, dass die Derivationen jedoch rein modalen Charakter tragen und die endgültige Aneignung der Objekte denotieren.
Tessadri führt die Ablehnung der zitierten Verben darauf zurück, dass diese intransitiven BV sich für die Befragten nicht in Verben mit resultativer Aktionsart umwandeln lassen. Im Unterschied dazu sind die obigen im Dialekt des Passeiertales ja schon “Verben der Erwerbung oder Aneignung”, die durch das der- nur die zirkumstanzielle Modalität annehmen, allerdings bleibt ihre Kernsemantik “Aneignung” dabei erhalten. Das heißt, dass in diesem Dialekt das Präfix nicht disambiguierend wirkt, wie bereits oben gesagt wurde, denn wenn die Musikkapelle etwas derschpiilt, ist sie einerseits imstande es zu spielen, aber sie kann damit auch etwas in ihre Kasse spielen, es sich also aneignen.
Dass man das nicht verallgemeinern darf, scheint sich bei derfroogn anzudeuten. Das BV froogn weist eine völlig andere Distribution auf als die Derivation, denn diese denotiert die Aneignung dessen, was man gefragt hat. Bei einer positiven Aussage steht die Aneignung so stark im Vordergrund, dass die Modalität völlig ausgeklammert wird. Bei i hɔn derfrɔk (ich habe in Erfahrung gebracht) würde das der- dem Agens nicht notwendigerweise die Komponente “Intention” (Tessadri 37) hinzufügen, denn man bringt auch zufällig, als passiver Zuhörer Dinge in Erfahrung, während bei derschpiiln sowohl die Intention als auch die Überwindung eines Hindernisses enthalten sind.
Eine besondere Bildung ist deraltnin. Wenn im Frühjahr der Heustock noch nicht ganz aufgefüttert ist, hat der Bauer noch etwas Heu deraltnt (aufbewahren können). Das ist bei Schabus die Kategorie der-5, “BA werden, machen”, also in den Zustand des zugrunde liegenden Adjektivs bringen oder geraten. Gleichzeitig jedoch weist es auch die Modalität von “können” auf. Der Bauer war imstande das Heu aufzubewahren, zu “Altheu” zu machen. Das ist anders als bei derkhrɔngkhn, welches unabsichtlich geschieht und keine Leistung darstellt. Mir scheint, dass bei solchen Verben immer zwei Komponenten des Präfixes anzusetzen sind.
Zwei unterschiedliche Formen von Modalität weist das Verb derlaidn auf. Mit menschlichem Subjekt besagt es, dass jemand physisch oder psychisch etwas verträgt: jmd. derlaidit nicht (verträgt nichts) heißt, dass jemand überempfindlich ist. Und wenn es bei einer Sache noch epis derlaidit (etwas braucht), heißt das, dass da noch einiges fehlt, dass noch tewas benötigt wird. Aber auch bei einer Arbeit kann es heißen des hɔt iats epis derliitn (dazu hat es jetzt allerhand gebraucht = das war ein schweres Stück Arbeit). Dies ist ein Beispiel dafür, dass bei der Produktivität des Präfixes Derivationen im Prozess der Lexikalisierung nicht immer eindeutig einzuordnen sind.
der-Verben als Stellvertreter: derrichtn, dertian, derpɔkhn
Wenn wir uns die Derivationen mit dem modalen der- im Dialekt des Passeiertales genauer anschauen, dann fallen hier einige besonders frequente Beispiele auf: derrichtn, dertian, derpɔkhn – begrenzt auch dermɔchn. Sie fungieren häufig als Substitute für Ereignisse, auf die – meist mithilfe des referenziellen “es” – verwiesen wird. Wenn, im Unterschied zu den bei Sonnenhauser zitierten Beispielen, der-Verben in dem beschriebenen Dialekt nicht mit “können” kombinierbar sind, kann man bei diesen dreien noch weiter gehen und bereits von einer fortgeschrittenen Grammatikalisierung sprechen; sie haben die Modalität von “können” voll übernommen, sodass eine Kombination mit dem Modalverb obsolet würde; so gesehen sind sie mit dem bereits besprochenen pringin gleichzusetzen. Das wird klar, wenn wir sie einzeln anhand entsprechend ausgewählter Beispiele betrachten.
derrichtn
Für das Simplex richtn sind in unserem Wörterbuch mehrere Bedeutungen angegeben: ’etwas instand setzen, etwas anschaffen oder bereit stellen, etwas zustande bringen’; reflexiv gebraucht hat es die Sonderbedeutung ‘sich bessern, sich positiv entwickeln’. Beispiele für den Gebrauch des Verbs wären: an tsaun richtn (einen Zaun aufstellen oder reparieren), prenholts richtn (Brennholz bereitstellen). Die dritte Bedeutung wird oft negativ ausgedrückt: mit den meser richtsch-e nicht (mit diesem Messer ist nichts auszurichten). Zwar steht in unserem Wörterbuch: duu derrichtsch nit amɔl s holts firn winter (du bist nicht einmal imstande das Brennholz für den Winter bereitzustellen). Hier wird die Derivation noch mit der Kernsemantik des BV gebildet, nämlich ‘anschaffen, bereitstellen’. Aber sie kann auch als Ersatz für bereits durchgeführte oder versuchte bzw. geplante Unternehmungen dienen: i hɔn giwelt an khnopf mɔchn, ober i hɔn-s nit derrichtit (ich wollte einen Knopf machen, aber es ist mir nicht gelungen), wen-i-s nou derricht, nɔr pɔch-i morgn an schtruudl (wenn ichs noch zustande bringe, backe ich morgen einen Strudel). In diesen beiden Beispielen ist dieselbe Form nur mehr Träger der Modalität und das referenzielle Pronomen verweist anaphorisch oder kataphorisch auf das Ereignis. Die Frage ist hier nämlich, ob das Können oder die Geschicklichkeit des Subjekts ausreicht, den Anforderungen, die das Ereignis stellt, gerecht zu werden.
dertian
Noch stärker als bei derrichtn wird die Semantik des polisemischen BV tian durch das Präfix eingeengt: dertian steht nur mehr für die zeitliche Komponente des Ereignisses. Das Objekt kann hier sowohl ein Nomen als auch das referenzielle Pronomen sein, das auf einen Infinitivsatz verweist: gea, sischt dertuasch-e s-poschtaute niamer (geh, sonst versäumst du den Bus), i weer-s niamer dertian epis intsikhaafm (ich werde es zeitlich nicht mehr schaffen etwas einzukaufen).
Was hier als Schwierigkeit oder “Hindernis” im Sinne von Sonnenhauser, überwunden werden muss, ist die knapp bemessene Zeit.
derpɔkhn
Bei derpɔkhn verweist die modale Komponente in erster Linie auf die körperliche – gelegentlich auch die psychische – Konstitution des Agens. Wenn jemand sagt der footer derpɔkht-s niamer in ɔkher auchntsigian (der Vater schafft es nicht mehr in den Acker hinaufzugehen), dann ist zwar die Steilheit oder Länge des Weges das Hindernis, aber betont wird die Konstitution des Subjekts, die es ihm nicht mehr erlaubt, das Hindernis zu überwinden. Wenn jemand bei der Arbeit, beim Gehen etc. völlig erschöpft aufgibt, dann wird man sagen eer/sii hɔt-s niamer derpɔkht (er/sie hat es nicht mehr geschafft), wobei das “es” auf das aktuelle Ereignis verweist.
Leistung der Stellvertreterverben
Wenn wir das Beispiel vom Knopf-Machen noch einmal aufgreifen, wird der Unterschied zwischen den “gewöhnlichen” der-Verben und den für sie einsetzbaren Substituten deutlich: bei derrichtn bezieht sich das “es” im Nachsatz auf das Ereignis “einen Knopf machen”, bei dermɔchn muss der Nachsatz lauten: ober i hɔn-in nit dermɔcht, denn das Pronomen bezieht sich hier auf das direkte Objekt “Knopf”, nicht auf das gesamte Ereignis.
Wie wir sehen, richten sich diese drei nach den spezifischen Umständen, unter denen das Ereignis stattfindet. Die Aussage von Sonnenhauser, dass die Hindernisse für den erfolgreichen Ablauf des Ereignisses am Objekt liegen, wird durch diese Verben einigermaßen relativiert, indem derrichtn die Fähigkeit und das Können des Subjekts mit einbringt, dertian die Zeit, die dem Subjekt zur Verfügung steht, und derpɔkhn die Konstitution des Subjekts. Natürlich sind bei i dergea-s nit dieselben Faktoren mit im Spiel, aber bei i derpɔkh-s nit treten die physischen Voraussetzungen des Subjekts stärker in den Vordergrund. Wenn jemand zu einer Bergtour eingeladen wird, und er/sie sagt sel derpɔkh ii niamer, dann werden damit in ersterr Linie die Voraussetzungen für die Bewältigung der vorgeschlagenen Anstrengung am Subjekt angesprochen. Das trifft natürlich auf alle modalen der-Derivationen zu, wird aber bei derpɔkhn und derrichtn besonders deutlich.
Reflexive
Reflexive Verben werden bei Sonnenhauser und Tessadri nur am Rande erwähnt. Es wird zwar bei beiden die Akzeptanz von derschämen abgefragt, aber dabei geht es nur darum, ob es sich dabei um eine bewusste Handlung handelt. Unechte Reflexiva mit telischem Chgarakter erfüllen alle Bedingungen für das modale der- in Bezug auf Agens und direktes Objekt:
er derwascht-se niamer selber oo
er ist nicht mehr imstande sich selbst zu waschen.
Aber wie steht es um echte Reflexive?
Es gibt eine kleine Gruppe von Reflexiven: si derrefitiarn (sich zu helfen wissen), si derpfelfm (sich wirtschaftlich sanieren können), si derweirn (sich erwehren), si derfɔngin (sich wieder unter Kontrolle haben, sich von einem Rückschlag erholen), si derpsintn (sich erinnern). Bei diesen ist die modale Komponente im Vordergrund.
fi den wersch-i-de wɔl derweirn!
von dem/davon [Person oder Sache] wirst du dich doch wohl erwehren!
wen-i-me derpsuntn hat, …
wenn ich mich erinnert hätte, wenn es mir eingefallen wäre, …
Während diese beiden verbale Basen haben, ist si derpfelfn zu pfelf (Nutzen, Vorteil) und si derschtiln zu schtile (still, ruhig) gebildet:
mit deer pope derschtilt-si-se schtuntnlɔng
sie ist imstande sich mit dieser Puppe stundenlang [still, allein] zu beschäftigen;
so sagt man, wenn Kinder sich lange Zeit still und intensiv mit etwas beschäftigen.
Ein extremes Beispiel haben wir oben (2.3) mit wen-si-s tsuaderrichtit. Hier haben wir ein Reflexivum, das sich auf ein “unpersönliches” Agens bezieht, nämlich die Atmosphäre.
Wenn man das Reflexivpronomen bei echten Reflexiva als Teil des Prädikats definiert, können einige der obigen Derivationen nicht als transitiv gelten, da sie kein direktes Objekt annehmen.
Fazit zum modalen der-
Wie nicht anders zu erwarten, stimmen die Voraussetzungen der modalen der-Derivation in diesem Dialekt mit den Befunden von Sonnenhauser und Tessadri über weite Strecken überein, doch es ergeben sich einige markante Abweichungen dazu.
Bereits bei Tessadri zeigt sich, dass das Präfix in Südtirol produktiver ist als im Mittelbairischen. Den Grund dafür sieht er darin, dass hier der- einem Verb, dessen Subjekt zumindest Verursacher des beschriebenen Vorgangs oder Zustandes sein kann, die Komponente “Intention” hinzufügt (Tessadri,37). Er stellt weiters fest: “Statt der drei Kriterien Dynamizität, Transitivität und Agentivität, ist nur letztere wirklich für eine Derivation mit der- ausschlaggebend. Und auch hier muss das Agens die Agentivitätskriterien nur teilweise erfüllen."(Tessadri,38) Die Altöttinger Stichprobe behandelt das bedeutend restriktiver.
Bei einer Zwischenbilanz zu ihrer Arbeit zum Präfix der- südlich der Alpen Tamara Bassighini: The derivational prefix 'der-’ south of the Alps. WORD FORMATION IN BAVARIAN. Workshop – 25th November 2022, Free University of Bolzano/Bozen. kommt Tamara Bassighini ebenfalls zum Schluss, dass das Präfix nicht nur in Südtirol, sondern auch bei anderen deutschsprachigen Minderheiten in Norditalien produktiver ist als nördlich der Alpen.
Ein markanter Unterschied zu Sonnenhauser und Tessadri ergibt sich durch die Akzeptanz eines unpersönlichen Subjekts als Agens im Dialekt des Passeiertales, was weder in Altötting noch in Bozen möglich erscheint.
Weiters bleibt die Ambiguität zwischen modalem der- und Verben der Erwerbung oder Aneignung erhalten, wenn auch die hohe Frequenz der modalen Variante bei einzelnen Verben alternative Interpretationen in den Hintergrund treten lässt oder gar ausschließt.
Außerdem verbietet sich in diesem Dialekt die tautologische Kombination von modalem der- und “können”. Diese scheint allerdings südlich der Alpen generell zuzutreffen, wie sowohl die Untersuchung von Tessadri als auch die Zwischenbilanz von Bassighini bestätigen.
Und schließlich sind da die reflexiven Verben, die dem Grundsatz, dass alle modalen Derivationen ein direktes Objekt erhalten müssen, zu widersprechen scheinen.
Literatur
Eichinger, Ludwig M. (1999): Der-, aspektuelles Päfix und bairisches Shibboleth. In Herbert Tatzreiter, Maria Hornung & Peter Ernst (eds.), Erträge der Dialektologie und Lexikographie: Festgabe für Werner Bauer zum 60. Geburtstag, 61–87. Edition Praesens: Wien.
Kortmann, Bernd (1991): The Triad „Tense – Aspect – Aktionsart”. Problems and possible solutions. In: Vetters , Carl u.a.: Perspectives on aspect and Aktionsart. Bruxelles: Ed. de l'Univ. de Bruxelles, 1991. (Belgian journal of linguistics ; 6.1991),9 – 27.
Lanthaler, Franz (1971): Zur Morphologie der Verben in der Mundart des Passeiertales (Südtirol). Diss. Innsbruck, Ms.
Schabus, Sieglinde (1982): Die Präfixverben in den südbairischen Dialekten Kärntens. Eine Untersuchung zur Wortbildung. Wilhelm Braumüller: Wien.
Sonnenhauser, Barbara (2012): Zirkumstantielle Modalität im Bairischen: Das verbale Präfix der-. ZDL LXXIX, Heft 1, 2012, Franz Steiner Verlag: Stuttgart, 65–88.
Terssadri, Wolfgang (2017): Die Entstehung des bairischen Verbalpräfixes der- und dessen synchrone Verwendung in den südbairischen Dialekten Südtirols. Bachelorarbeit, Konstanz, Ms..
Zehetner, Ludwig (2005): Bairisches Deutsch. Lexikon der Sprache in Altbayern. edition vulpes: Regensburg.
Zehetner, Ludwig (2009): Basst scho! Wörter und Wendungen aus den Dialekten und der regionalen Hochsprache in Altbayern. edition vulpes: Regensburg.