Dialekt und anderes

Franz Lanthaler


Das Präfix g- im Dialekt des Passeiertales

Das Präfix g- spielt sowohl in der Flexion des Verbs als auch in der Wortbildung des Dialekts eine bedeutende Rolle. Es wird für die Bildung des PP gebraucht und es ist besonders produktiv in der Bildung von – vor allem deverbalen – Subtantiv- und Adjektivableitungen. Außerdem sind im Dialekt noch Spuren seiner früheren Funktion als semantischer Modifikator von Verben nachweisbar.

Zur Phonologie des Morphems

Zu den phonologischen Bedingungen für das Auftreten der Allophone des Morphems verweise ich auf Alber/Lanthaler 2005 Alber/Lanthaler 2005,78. Zu diesem Artikel habe ich vor allem die Daten beigesteuert. . Was die Grundform des Präfixes betrifft, lautet der Kernsatz dort: “In den Tiroler Dialekten taucht das schwa nur in vorhersagbaren, phonologisch klar definierten Kontexten auf, kann also nicht als zugrunde liegendes Element interpretiert werden.” Im Dialekt des Passeiertales enthält das Morphem vor Plosiven Epenthese (in diesem Dialekt einen Schleiflaut, der dem i nahe kommt). Vor stimmlosen Frikativen und Vokalen haben wir das Präfix ohne Epenthese, je nach Anlaut des Wortstammes als stimmhaften, stimmlosen palatalen Verschlusslaut oder als affrizierten Palatal. Anders als in einer Reihe anderer Südtiroler Dialekte haben wir jedoch auch vor Sonoranten und stimmhaften Frikativen Vokalepenthese.

Wir haben in diesem Dialekt also folgende Allomorphe des Präfixes: g-, gı-, k- und kh-, deren Verteilung aus der folgenden Tabelle ersichtlich wird:

PP im Dialekt des Passeiertales leicht modifiziert nach Alber/Lanthaler a.a.O.,82. Im Original haben wir die Affrikata immer mit kx geschrieben, da in diesem Dialekt dieser Laut jedoch sehr weit vorne am Gaumen gebildet wird, hab ich mich hier, einem Vorschlag von B. Alber folgend, für die Schreibung mit kh entschieden.

PPInf.OnsetPräf.
gıpɔkhtpɔkhn̩Plosiveg + ı
gıtreːtn̩treːtn̩
gıkaokltkaoklın
gıkhεntkhεnın
gıdεŋkhtdeŋkhŋ̩
gıgoltn̩gεltn̩
kfrɔkfroːgŋ̩stl. Frikativek-, kh-
kfuntn̩fıntn̩
ksuɑxtsuaxn̩
khɘpheibm̩
khɔphoːbm̩
gıvıstvısn̩sth. Frikativeg + ı
gımuɑntmuanNasale
gınɔmınnεmın
gılɔxtlɔxn̩Liquide
gıraontstraontsn̩
gıjoːgŋ̩joːgŋ̩Approx.
gɔrbıtıtɔrbıtn̩Vokaleg-
gεsn̩εsn̩

Dieselben phonologischen Bedingungen gelten selbstverständlich auch bei den Derivationen: gıtuɐ (Getue), gıvaksık (gut wachsend), gılaxtər (Gelächter), ksuɐx (Gesuch), khεɐr (Gehör) zu: tiən, vɔksn̩, lɔxn̩, suɐxn̩, hεɐrn.

Dass auch ursprüngliche Lehnwörter das Präfix annehmen können, sobald sie nicht mehr als fremd empfunden werden, beweisen, neben vielen anderen, gılamitiərt (lamentiert) und kʃtudiərt (studiert): a kʃtudiərtər (ein Gebildeter). Allerdings nehmen die meisten Verben auf -iərn das Präfix nicht an, wie hɔntiərn, tıfıdiərn, telıfıniərn (hantieren, dividieren, telefonieren) usw.

Es gibt auch einige germanischstämmige Verben, die im PP das Präfix nicht annehmen, wie geːbm̩, khεmın, giən (geben, kommen, gehen), nämlich: geːbm̩, khεmın, gɔŋın. Bei älteren Leuten hab ich früher noch gehört es hɔt gɔsn̩ (es hat gegossen = heftig geregnet) und vεns trofn̩ gεat (wenn es der Zufall will). Bei diesen, außer bei khεmın, könnte es sich um alte Formen halten, da sie mit g- anlauten und e (oder schwa) zwischen zwei gleichen Konsonanten schon in mhd. Zeit oft ausfiel.

Für trennbare und nicht trennbare Präfixverben gelten dieselben Regeln wie im Standard: die nicht trennbaren Präfixe der-, fər-, p[ı]- und ent- sowie die unbetonten um-, durx-, iːbər- schließen eine weitere Präfigierung mit g- aus. Eine Ausnahme bildet dər- bei lexikalisierten Präfixverben wie gıveːn und gıvoːrnın; sie nehmen im Perfekt kein g- mehr an, können jedoch im Unterschied zu den anderen Verben nochmals mit der- präfigiert werden: er hɔts galıŋ ʃun dərgıveːnt (irgendwann hat er sich doch dran gewöhnt), si hoːbm̩s nıt rεxttsaitık dərgıvoːrnt (sie haben es nicht rechtzeitig wahrgenommen).

Das Präfix am Verb

Während die Funktion des Präfixes in der Morphologie des Verbs eindeutig festgelegt ist – zusammen mit einem Dentalsuffix bildet es bei den schwachen Verben und in Kombination mit einer entsprechenden Stammform bei den starken Verben das PP –, ist die Semantik, die das Morphem in der Wortbildung vermittelt, gelegentlich schwieriger zu beschreiben.

Zu einer Reihe von Verben mit dem Präfix wie gıvının, gıvoːrnın, gıveːn (gewinnen, wahrnehmen, gewöhnen) gibt es kein Simplex. Sie passen allerdings in das traditionelle Schema der perfektiven Verben mit diesem Präfix.

Von den zwei Funktionen, die das Morphem am Verb im Mittelhochdeutschen noch hatte, nämlich den Ausdruck der Vollendung eines Vorganges mit der Bildung des PP, auch noch am Präteritum gesach (hatte gesehen) oder im Konjunktiv Präsens mit “prospektiv-futurischer” Bedeutung so si ... gegrüezen (wenn sie …gegrüßt haben werden) siehe Paul/Moser/Schröbler 297,4.a) , und die ingressive Aktionsart, gesitzen (sich setzen) gesëhen (erblicken) siehe Weinhold, Ehrismann, Moser §178 , ist diese letztere im Dialekt nur noch relikthaft und mit Verschiebung des Aspekts vorhanden. So bedeutet kseːxn̩ ‘das Sehvermögen haben’ oder ‘die Möglichkeit haben, zu sehen’. Hier hat sich allerdings die ingressive oder perfektive Aktionsart auf die Modalität verlagert, die dem Subjekt eine Fähigkeit oder Möglichkeit zuschreibt. Das Verb kann aussagen, dass jemand (nicht) genügend Sehvermögen oder die Möglichkeit hat, etwas zu sehen, entweder generell oder bezogen auf einen bestimmten Vorgang, oder dass in einer bestimmten Situation) (k)eine entsprechende Sicht vorhanden ist. Folgende Beispiele verdeutlichen den Unterschied zwischen Präfixverb und Simplex: doː ksık mın nıxt (hier ist keine Sicht), doː sık mın nıxt (hier ist nichts zu sehen, hier sieht man nichts). Während das Erste nur angibt, dass man am angegebenen Ort aufgrund der Sichtverhältnisse nichts sehen kann, kann das Zweite beides ausdrücken: dass hier nichts ist (was man sehen könnte) oder dass schlechte Sichtverhältnisse sind. Das Präfixverb kann auch einen Objektsatz einleiten: iː ksiːxs Das enklitische -s (es) am Verb ist hier ein obligatorischer Platzhalter für den folgenden Objektsatz. niəmər, dı tsaitıŋ tsı leːsn̩ (Ich habe nicht mehr genug Sehvermögen, die Zeitung zu lesen). Auch die folgenden Aussagen beziehen sich auf das Sehvermögen: eːr ksık fɔʃt nıxt mεɐr (er sieht fast nichts mehr, er ist fast blind) oder sılɔŋ i nou ɘpıs ksiːx (solange ich noch [etwas] sehen kann). Der Unterschied zwischen kseːxn̩ und dərseːxn̩ liegt einerseits in der Syntax: zwar sind beide transitiv, aber das g-Verb kann nur ɘpıs (etwas), nıxt (nichts) oder das referentielle “es” als Objekt haben – das dann allerdings auf einen Objektsatz verweisen kann, wie wir oben gesehen haben. Das der-Verb unterliegt dieser Einschränkung nicht, kann also alles Sichtbare als Objekt haben. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass das modale der- die Funktion des Präfixes g- übernommen hat, nachdem dieses seine perfektive Kraft verloren hatte, als das Perfekt in den süddeutschen Dialekten die Funktion des Präteritums übernahm.

Neben kseːxn̩ drückt auch noch gıdeŋkhŋ̩ die Fähigkeit zur Ausführung des vom Verb genannten Vorganges aus: gıdeŋkhtıs nou ınsərn neːnə? (erinnert ihr euch noch an unseren Großvater?); es leːbm̩ lai mεɑr viənıg, deːs nou gıdeŋkhŋ̩ (es leben nur mehr wenige, die sich noch daran erinnern). Hier ändert das Präfix die Valenz: während das Simplex ein Präpositionalobjekt hat, ist das Präfixverb transitiv.

Es gibt jedoch eine ganze Reihe von Verben, die sowohl mit als auch ohne das Suffix vorkommen, wobei die Semantik der meisten dieser Präfixverben so weit von der des Grundwortes entfernt ist, dass sie gar nicht mehr als zu ihm gehörig empfunden werden. Dasselbe kennen wir aus dem Standard, wo wir fallen und gefallen haben wie im Dialekt fɔln und kfɔln. Keine Parallele im Hochdeutschen haben ʃɔfn̩ (anschaffen, bestimmen) und kʃɔfn̩ (miteinander auskommen). Am standardsprachlichen gefallen sieht man, wie die Lexikalisierung erfolgt sein muss: aus der ursprünglich ingressiven Bedeutung, dass einem etwas (positiv) zufällt, ist dann “gefallen” entstanden.

Dann gibt es jedoch im Dialekt – im Unterschied zum Standard – Präfixbildungen, die auch keine lautliche Beziehung zu einem Grundverb aufweisen. Das trifft bei kʃvɘln (schwellen, anschwellen) zu. Dazu gibt es die Verbindungen aukʃvɘln (anschwellen) und oːkʃvɘln (abschwellen). Die Präfigierung, die die perfektive Aktionsart zur Folge hat, zeigt an, dass das Verb als Simplex verstanden wird.

Im Dialekt kommt zwar das Simplex frieren nicht vor, da aber sowohl kfriərn (gefrieren) als auch dərfriərn (erfrieren oder stark frieren) existieren, wobei sich die Grundbedeutung nicht verschiebt, sondern nur die Aktionsart wechselt, sind die beiden als Präfixverben zu führen und kfriərn weist die perfektive Aktionsart auf. Ob ein Verb als Simplex oder als Präfixbildung empfunden wird, sagt das PP. Wenn es nicht (noch einmal) das Präfix erhält, wird es als Präfixverb behandelt, ganz unabhängig davon, ob es motiviert erscheint oder nicht. Das ist bei kfrourn der Fall, denn anders als dieses erhält khɔltn̩ (behalten, aufbewahren) im PP das Präfix: gıkhɔltn̩, dazu auch noch aukhɔltn̩ (aufbewahren) – PP augıkhɔltn̩ –, obwohl es dazu auch das Simplex hɔltn̩ (halten, stehen bleiben) gibt, mit dem PP khɔltn̩: s-autə hɔt nıt khɔltn̩ (das Auto hat nicht angehalten).

Ein Sonderfall ist kʃpiːrn (spüren, Spuren sehen), das im Standard als Simplex vorkommt. Während es jedoch standardsprachlich nur mehr für die körperliche oder übertragene Wahrnehmung (Tastsinn, Wärme-, Schmerzempfindung sowie Gefühle etc.) gebraucht wird, hat es im Dialekt neben dieser – mit der Standardsemantik gemeinsamen – auch noch die eng mit ʃpuːr und ʃpuːrn (Spur und eine Spur ziehen) verbundene Bedeutung der mhd. Jägersprache ’eine Spur sehen oder verfolgen’ behalten.

Im Unterschied zu manchen Nachbardialekten, die bei einigen der obigen Verben das Präfix im Partizip (noch einmal) setzen, z.B. gıkfɔln, gıkʃɔfn̩, ist dies bei dem hier beschriebenen Dialekt nicht der Fall.

Aus synchronischer Sicht hat das Morphem im Verbalbereich die Funktion, einen besonderen Aspekt des Verbs oder eine Aktionsart anzuzeigen, also nur noch in Spuren behalten, wie das Beispiel einzelner Präfixverben zeigt.

Substantivische und adjektivische Derivationen mit dem Präfix g-

Es werden in diesem Dialekt sehr viele Derivationen mit diesem Präfix gebildet, allerdings kann man bei einer Reihe von diesen nicht mehr von echten Derivationen sprechen, da der zweite Teil davon nicht (mehr) als selbstständiges Morphem existiert. So ist bei gıveir der ursprüngliche Zusammenhang mit veirn zwar lautlich noch sichtbar, in der Reanalyse jedoch nicht mehr im Bewusstsein der SprecherInnen. So auch bei gıtrɔɐdə, gımiəsə, gımiət, gımuɐnə (Getreide, Gemüse, Gemüt, Geimeinde). Auch bei khεŋ (Gehänge, Aufhängevorrichtung an der Seilbahn) das zu hεŋin ([auf]hängen) gebildet ist, ist es fraglich, ob es von den Sprechern als Ableitung empfunden wird. Ebenso bei Adjektiven: gımiətlıx, gınau, gınuɐg, gıviːs (gemütlich, genau, genug, gewiss). Die Wortbildung ist hier nur mehr sprachhistorisch zu erschließen und manche dieser ursprünglichen Bildungen sind wohl aus dem Standard übernommen.

Trotzdem gibt es im Dialekt zahllose deverbale Substantive mit diesem Präfix, wobei der Stamm starker Verben häufig abgelautet, jener schwacher Verben mit umlautfähigem Stammvokal gelegentlich umgelautet erscheint: gılɔɐpə, gırεnə, gırıs, gıvaks, gıpai, gımax (Überbleibsel, Lauferei, starkes Begehren, Auswuchs, Gebäude, Machart) zu lɔɐpm̩, rεnın, raisn̩, vɔksn̩, pauın, mɔxn̩. Es werden mithilfe des Präfixes auch aus anderen Substantiven neue gebildet: gıtjatər, gıvamp, gıgoːglə (dummes Gehabe, Gedärme, Gekoller) aus: tjatər, vɔmpə, goːgl̩ (Theater, Bauch, Kotklümpchen). Auch mit Namen kann das Präfix kombiniert werden: gıgrεɑtlə – zu grεɑtl̩ – und gıtreːsılə – zu treːsə –, die für ‘komplizierte Liebesbeziehungen’ stehen.

Zu hεɐrn (hören) ist nur mehr das deverbale Substantiv khεɐr (Gehör) vorhanden. Das heutige Verb khεɐrn (gehören, sich gehören) wird wohl nicht mehr als zu hεɐrn gehörig empfunden, aber es hatte ursprünglich sicher auch dieselbe semantische Komponente wie kseːxn̩, also das Hörvermögen betreffend, wie eine Aufzeichnung aus dem benachbarten Schnalser Dialekt um 1620 noch beweist: WAN MEIN ORN NICHT MA THIEN GEHÖRN siehe Lanthaler 2012, 243f. .

Die Semantik der deverbalen Substantiva mit diesem Präfix kann sehr unterschiedlich sein. Sehr häufig ist es das Produkt des vom Verb bezeichneten Vorgangs oder das Objekt desselben. Dazu gehören gaːsə (Kehricht) zu aːsn̩ (verstreuen), kfırbmə und ksaibərə (Nachgeburt bei Tieren) zu fırbmın und saibərn (dıe Nachgeburt abwerfen), kʃpiːbıt (Erbrochenes) zu ʃpaibm̩ (spucken, erbrechen), kʃtrıkh(ıt) ([das in Arbeit befindliche] Strickzeug) zu ʃtrıkhn̩ und dasselbe zu ʃtıkhn̩, nämlich kʃtıkh(ıt) (Stickzeug). Zu ʃtraitn̩ (streiten), ʃtruːtsn̩ (mühsam schleppen), ʃraijın (schreien) und voːgŋ (wagen, riskieren) ̩werden Abstrakta gebildet, die den Vorgang selbst beschreiben: kʃtriːt (Streiterei), kʃtruːtsə (mühsames Schleppen), kʃrɔɑ (Geschrei), gıvaːk (Risiko). Auch Bezeichnungen für Gegenstände, die das leisten, was die Semantik des Verbs als Vorgang oder Zustand aussagt, können gebildet werden. So wird zu fɔsn̩ (fassen) kfas (Fassung, Einfassung) gebildet, ebenso kfrıʃt (gefrorener Boden) zu kfriərn (gefrieren, frieren). Da die Ableitung auf die mhd. Stammform (ge)vriesen verweist und den Rhotazismus des Verbs nicht mitgemacht hat, muss sie sehr alt sein. Zu fɔln (fallen) gibt es die Geländebezeichnung kfɘl (steile Bergflanke, Absturz). Als Objekte der vom Verb bezeichneten Handlung kann man ksıf (Gesöff) zu saufn̩ (saufen) und ksout (überbrühtes Grünzeug als Schweinefutter) zu siədn̩ (sieden) betrachten.

kfraːs hat mehr oder weniger dieselbe Bedeutung wie gaːsə, es kann allerdings auch für ein eizelnes ‘Staubkorn’ stehen. Die Motivation ist nicht durchsichtig, aber es ist in der Schweiz als ‘Abfall von allerlei Stoffen, …, Kehricht, unnützes Zeug’ belegt. kʃlos (Schloss) schließt an eine mittelhochdeutsche Form des Wortes an und scheint früher weit verbreitet gewesen zu sein, denn in dem ehemals berühmten Wiltener Gaunerstück “Der schurkische Kuno von Drachenfels” fragt der Titelheld einmal: “Wos ischn des für a Gschloß?”

Ziemlich einige Adjektive werden aus Verbalstämmen mit dem Präfix g- in Kombination mit dem Suffix -ıg gebildet: kʃaːmıg, kʃnapıg, kʃrıkhıg, kʃuıxıg, kʃpaːrıg (verschämt, gut schmeckend, schnippisch, leicht erschreckbar, scheu, sparsam). Mit einem anderen Suffix, nämlich -l, wird kfriərl̩ oder kfriːrl̩ (kälteempfindlich) gebildet. Auffallend ist, dass alle betroffenen Verbalstämme mit einem stimmlosen Reibelaut beginnen, weshalb alle diese Derivationen mit dem Allomorph k- gebildet werden. Mit - gibt es nur gıvaksıg und gıvındərıg (gut wachsend und neugierig), da die Stämme mit stimmhaftem Reibelaut einsetzen. Während alle anderen von Verben abgeleitet sind, ist dies beim Letzten nicht eindeutig; es kann sowohl zu vundərn wie zu vunder (neigierig sein, Neugier) gebildet worden sein. Bei kʃaftıg, kʃmaxıg oder kʃmaxl̩ und kʃεɐrıg (wichtigtuerisch, gut schmeckend und mühsam) handelt es sich um Derivationen aus Substantiven, die bereits das Präfix tragen, nämlich kʃaftl̩, kʃmɔxn̩ und kʃεɐr. Als Ableitungsmorpheme fungieren also die Suffixe -ıg und -l , wie ja überhaupt g- immer in Kombination mit einem Suffix, also nur als Zirkumfix, seine Wirkung entfaltet.

Es gibt eine Reihe von Pseudopartizipien, die aus Bezeichnungen von geometrischen Formen abgeleitet sind: kʃprεkl̩t und gıgʊrtıt (gesprenkelt und quer gestreift) bezeichnen die Färbung der Felle von Ziegen, gıkhaʃtl̩t und gıvalkhılıt (kariert) die Farbgestaltung von Textilien.

Daneben gibt es eine konsistente Gruppe echter Partizipien, die sich jedoch von der Semantik der Ausgangsverben sehr weit entfernt haben: kʃεart, kʃupft, kʃpraitst; sie alle bezeichnen ein, vor allem im ländlichen Raum, als ‘unnatürlich, überheblich, städtisch’ angesehenes Verhalten. Das Letzte ist standardsprachlich und das Erste gehört zur gesamtösterreichischen Umgangssprache, nur kʃupft ist speziell.

Der Umgangssprache oder dem Standard entnommen sind gıvıtsıgıt und gıpflɘk, denn pflegen gehört nicht zum Dialektwortschatgz und auch vıtsıgŋ̩ (Witzigung) ist wohl ein “Lehnwort” aus einer der beiden genannten Varietäten.

Als Adverbien erscheinen kʃtεkht und kʃtroutst in Kombination mit fol. Auffallend ist, dass es sich bei kʃtεkht um das PP des intransitiven ʃtεkhn̩ handelt, und nicht um das des transitiven ʃtɘkhn̩. kʃtroutst fol hat dieselbe Bedeutung, aber es handelt sich hier um eine Analogiebildung, deren Basis im Dialekt nicht (mehr) existiert.

Literatur

Alber, Birgit und Franz Lanthaler (2005): Der Silbenonset in den Tiroler Dialekten. In: Di Meola, Claudio, Antonie Hornung und Lorenza Rega (Hgg.): Perspektiven Eins. Akten der 1. Tagung Deutsche Sprachwissenschaft in Italien (Rom, 6.–7. Februar 2004). Roma: Istituto Italiano di Studi Germanici, 57–88.

Haller, Harald und Franz Lanthaler (2004): Passeirer Wörterbuch. St.Martin: verlag.Passeier, 2. Auflage in Vorbereitung.

Lanthaler, Franz (2012): Ein alter Gebetsfries in einem Getreidespeicher. In: ders.: Texte zu Sprache und Schule in Südtirol. Herausgegeben von Hans Drumbl und Horst Sitta. Meran: AlphaBeta Verlag, 243–251.

Paul, Hermann (196920): Mittelhochdeutsche Grammatik. 20. Auflage, von Hugo Moser und Ingeborg Schöbler. Tübingen: Niemeyer.

Scheutz, Hannes (2016): Über Verben im Dialekt. In: ders. (Hg.): Insre Sproch. Deutsche Dialekte in Südtirol. Mit dem ersten sprechenden Dialektatlas auf CD-ROM. Bozen: Athesia, 80-94 (hier bes. Das Partizip, 90ff.)

Weinhold, Karl (196313): Kleine mittelhochdeutsche Grammatik. Fortgeführt von Gustav Ehrismann und Hugo Moser. Wien – Stuttgart: Universitäts-Verlagsbuchhandlung.