Dialekt und anderes

Franz Lanthaler


gipliëmp, ggseechn, Khear

Was die Vorsilbe gi- leistet

Die Vorsilbe ge-, die wir im Hochdeutschen unter anderem dazu brauchen, die Vergangenheitsform der Zeitwörter zu bilden, z.B. “gesagt, gefunden, gekommen”, erscheint im Passeier vor den meisten Lauten als gi-, also giweesn, gitoon, gileegn, vor einfachem Vokal erscheint sie nur als g-, also gërgert bei ërgern, und gårbitit bei årbitn, vor Zischlauten erscheint sie als gg-, also: froogn – ggfrågg, seechn – ggseechn, schrajin – ggschriirn, straitn – ggstriitn, und vor h schließlich tritt sie als k- auf: kheart, khuckt, khoalt. Man könnte diese letzten Wörter einfach mit k- schreiben, aber das h nach dem k zeigt an, mit welchem Grundwort sie zusammenhängen, eben: hearn, huckn, hoaln. Diese Lautung tritt immer in der entsprechenden Nachbarschaft auf, unabhängig davon, an welches Wort die Silbe angehängt wird, also auch bei Haptwörtern wie: Giwëir, Girëide,Ggsicht, Ggstraiß, Ggfëll, Khear.

Während die lautliche Erscheinung dieser Silbe, die in vielen Fällen ja nicht mehr eine Silbe, sondern nur mehr ein Laut ist, leicht zu beschreiben ist, ist die Verwendung, wie wir schon aus den obigen Beispielen sehen, nicht auf die Vergangenheitsform des Zeitworts beschränkt. Sie wurde schon früher auch für andere Zwecke eingesetzt, etwa um Wörtern einen neuen Sinn zu geben oder um neue Wörter zu bilden. So gab es im Mittelhochdeutschen das Wort dîhen, das “gehen” bedeutete; daraus wurde unser “gedeihen” und “gediegen”. Und unser giruijin beruht auf dem selben alten Wort wie hochdeutsch “reuen”, so wie unser Giloape von loapm kommt.

Was dieses gi- dabei leistet, wird deutlich, wenn wir er sigg nicht und er ggsigg nicht miteinander vergleichen. Während das Erstere besagt, dass jemand etwas jetzt gerade nicht mit den Augen wahrnimmt, bedeutet er ggsigg nicht, dass einer nicht die Fähigkeit, also die Augenkraft hat, etwas zu sehen. Oon an Augngloos ggsiich i’s niëmer di Zaitign zi leesn, pflegten alte Leute zu sagen. Dasselbe muss früher einmal zwischen hearn und khearn vor sich gegangen sein, denn nur so ist Khear, Gehör, also die Fähigkeit zu hören, erklärbar, auch wenn khearn heute nicht mehr in diesem Sinne gebraucht wird. Neben Wörtern wie Khear, Giwëir, Gitroade, Ggsicht usw., die in allem außer in der Lautung mit den entsprechenden hochdeutschen Wörtern übereinstimmen, gibt es noch sehr viele Wörter, die mit gi- im Dialekt neu gebildet werden, meist aus dem Stamm von Verben.

Auch bei wërbmin und giwërbmin erkennt man, was gi- bewirkt. Man wërbmt nämlich übrig gebliebene Speisen. Aber wenn Leute bei kaltem Wetter draußen vorbeigingen, sagte man zu ihnen: Gea dëcht inner und giwërbm dii a pissl pan Oufn zuëchn! (Komm doch herein und erwärm dich ein bisschen am Ofen!).

Übrigens gibt es Verben, die das Perfekt ohne gi- bilden: geebm, gångin, kemmin (gegeben, gegessen, gegangen, gekommen). Auffallend ist, dass alle mit g- oder k- ansetzen, also wie die Vorsilbe auch. Außerdem kommen diese alle auch in alten Texten so vor. Und meine Mutter hat auch noch gesagt es håt gossn (es hat geschüttet); allerdings hat sie auch gesagt wenns troffn geat (wenn es zufällig so kommt), wobei nicht mehr derselbe Anlaut vorhanden ist.

Oft drücken die so gebildeten Wörter das Ergebnis einer Handlung oder einer Arbeit aus, z.B. s Noochgireche ist das, was man sauber zusammengerecht hat, s Giloape ist das, was man übriggelassen hat, und s Ggstickit und s Ggstrickit sind die Stickerei und das Strickzeug. Hier wäre auch s Ggspiibit, das Erbrochene, einzuordnen. Ggschlamper wäre die durch Schlamperei verursachte Unordnung, s Gitaafle ist natürlich das Getäfel, s Giwax ein Auswuchs, s Ggsaibere oder Ggfirbme die Nachgeburt. Diese Liste könnte sehr lange fortgesetzt werde.

Oft wird auch die Handlung selbst durch so gebildete Wörter ausgedrückt, so z. B. zu lottern, luurlin, klinschtern, ggeenggn, straitn, tantlin (betteln, brüllen, klagen, raunzen, streiten, spielen) eben die Hauptwörter s Gilottere, Giluurle, Giklinschtere, Giggeengge, Ggstriit und Gitantle. Auch Ggstruuze, das von struuzn, also ‘mühsam schleppen’, kommt, gehört zu dieser Gruppe, wie auch Ggsång und Ggsangl, Ggschnattere, Ggschroa, Ggstånk. Es fällt auf, dass eine Reihe dieser Wörter etwas Unangenehmes bezeichnen, was allerdings nicht an der Vorsilbe gi- liegt, sondern schon in den Wörtern selbst, aus denen sie gebildet werden.

Das trifft meist auch bei jenen auf diese Weise gebildeten Wörtern zu, die beschreiben, wie etwas ausgeführt oder aufgebaut worden ist, wie s Gimach, Gitaarle, Giggriggl, Gilattere (Machart, Verzierung, schwankender Aufbau, wackelige Angelegenheit). So wie die beiden Letzten etwas Unsicheres, Schwankendes bezeichnen, so gibt es auch Bildungen, die ein Durcheinander oder Unordnung ausdrücken, wie Gizëitlwärch, Giwulggere, Girëldere, die für ‘unordentliche Zettelwirtschaft’, einen ‘zerwursteten Kleiderhaufen’ und eine ‘Geröllhalde’ stehen.

Auch bei der Angabe von Geräuschen sind es eher die unangenehmen, die mit gi- benannt werden, z. B. s Girumpl (Getöse) und s Ggfeengl. Letzteres kommt von feenglin, was so viel bedeutet wie: ‘mit der Geige kreischende Töne erzeugen’. Bei Ggsumse ist es schwer zu entscheiden, ob einem sumsn als ’lästige Bettelei und Nörgelei’ oder wegen des Geräusches auf die Nerven geht.

Auch wenn man zu jemandem sagt: Gea, måch nit a sëlle Ggstëll (Stell dich nicht so an!), handelt es sich um eine abwertende Bezeichnung, denn das Wort kann sowohl eine sonderbare Körperhaltung als auch ein kapriziertes Verhalten bezeichnen.

Neben dem negativen Beigeschmack, der mit dieser Wortbildung oft verbunden ist, vermitteln die Wörter gelegentlich auch noch den Sinn, dass eine große Menge beteiligt ist oder dass der Vorgang sehr heftig abläuft. So hat mir einmal ein Bekannter erzählt, dass beim Faschingsball a morz Giriit gewesen war, also ’ein großes Gedränge’. Auch bedeutet a Giriss, dass eine starke Nachfrage nach etwas herrscht.

Für komplizierte, problembehaftete Beziehungen zwischen den Geschlechtern gibt es Bildungen mit Frauennamen, nämlich Gigreatle und Gitreesile. Warum es gerade diese beiden Namen sind, ist nicht feststellbar; vielleicht ist es der Klang, oder es war eine Fau mit dem entsprechenden Namen beteiligt, als jemand diese Benennung aufbrachte, wie es bei der Ubaldschnitte (siehe Passeirer Wörterbuch) der Fall war. Für eine beginnende Liebschaft gibt es auch die Bezeichnung Gipantle, die mit “anbandeln” zu tun hat.

Einige dieser Wortbildungen sind nicht mehr ganz durchschauber. So weiß man nicht, womit genau Giraffl (Gerümpel, minderwertiges Zeug) zusammenhängt. Schöpf deutet in seinem Tiroler Wörterbuch an, dass es sich um Zusammengerafftes handle. Gglump hat wohl mit “Lumpen” zu tun, auch wenn es meist schlechte oder schlecht funktionierende Geräte bezeichnet.

Klar ersichtlich ist die Bildung bei Ggspuale und Ggsout. Ersteres waren die ‘Küchenabfälle für die Schweine’. Da man das Koch- und Essgeschirr grob gereinigt, also ausgespült hat, bevor es mit Waschmittel richtig ooggspiëlt wurde, und weil das Ergebnis dieses ersten Spülganges auch noch mit den Speiseresten in den Kübel für das Schweinefutter geschüttet wurde, wurde das Ganze eben Ggspuale genannt. Ggsout hingegen war das ’eingekochte Futter’ für die Schweine, das meist aus den mit einer eigenen Ggsoutmaschiin fein geschnittenen Plerchn (Alpenampfer) bestand.

Dass Ggsteng von Stange gebildet ist, ist noch klar erkennbar, aber das Uurkhais von Haus kommt und also ein ‘Gehäuse’ ist, fällt nicht jedem sofort ein. Und dass Glais von mhd. geleis zu leis (Spur) gebildet ist, kann man nur mehr aus Büchern wissen.

Dass die Spur im Passeier zur Ggspuur wird, ist leicht zu erklären, denn “spüren” heißt bei uns ja ggspiirn, und zwar sowohl im Sinne von ‘wahrnehmen, empfinden’ als auch in der Bedeutung von ‘Spuren sehen’, sodass man also etwa an Fux ggspiirn kann. Warum bei Schloss (Burg) im Passeirerischen die Vorsilbe drankommt, sodass es Ggschloss lautet, während es ja das einfache Schloss auch gibt, ist schwer zu sagen. Vielleicht gab es ein gesamttirolisches Ggschloss, denn im komischen Ritterspiel “Der schurkische Kuno von Drachenfels”, das nach der Mitte des vorigen Jahrhunderts in Innsbruck jahrzehntelang aufgeführte wurde, fragte eine der Figuren beim Anblick einer Burg: “Wos isch denn dës fir a Ggschlooß?”.

Bei Kheng und Koog ist die Herkunft vielleicht nicht auf den ersten Blick ersichtlich, aber sie wird einem bald klar. Ersteres ist eine Aufhängevorrichtung bei der Seilbahn, bestehend aus Schiene und Laufrolle, und man könnte es einfach mit ‘Gehänge’ übersetzen. Das Zweite ist ein ‘Pferch’ für das Vieh auf der Alm. Das Wort ist sicher verwandt mit “Hag” und “Gehege”, die ja auch umfriedete und umzäunte Plätze bezeichnen. Da der ursprüngliche Zusammenhang, wie gesagt, nicht mehr auf Anhieb sichtbar ist, haben wir es im Wörterbuch ohne h geschrieben. Das Wort ist sicher nicht verwandt mit dem norddeutschen “Koog, Kog”, welches aus dem Niederländischen stammt.

Interessant ist die Bildung von Ggschuich aus schuichn (scheuchen, verscheuchen). Zunächst ist es das Åckerggschuich, die Vogelscheuche, dann aber auch eine unordentliche, fahrige Frauensperson.

Zu diesem schuichn gibt es eine weitere Bildung in Kombination mit der Nachsilbe -ig, nämlich ggschuichig, so wie aus derschrëckn, wåxn, wundern die Eigenschaftswörter ggschrickig, giwaxig, giwinderig gebildet werden. Sie bezeichnen Menschen oder Tiere, die sehr leicht erschrecken, gut wachsen oder besonders neugierig sind, z. B. Tua s Maadele nit asou oonschaijin, es isch soufl ggschrickig (Schrei das Mädchen nicht so an, es erschrickt sehr leicht), oder: Dee Fackler tiën guat, dës isch a giwaxige Gåttign (Diese Ferkel gedeihen gut, es ist eine gut wachsende Gattung). Ohne die Nachsilbe -ig werden giwaarl (sicher) und ungiwaarl (riskant, gefährlich) gebildet. Sie hängen mit dem Wort “Gewähr”, also Sicherheit, Garantie zusammen, das es im Dialekt gar nicht (mehr) gibt. Von Witzign, Witziging, das fast nur in der Redewendung vorkommt uan ëppis a Witzign sain låssn (sich etwas eine Lehre sein lassen), kommt giwitzigit. Das Wörtchen ginoat kommt nur in Kombination mit sauber vor, also: sauber unt ginoat, was so viel bedeutet wie ‘ganz und gar’. Es muss eine alte Bildung mit Noat sein, aber wie sie zustande gekommen ist, ist nicht mehr ersichtlich. Eine besondere Wortbildung liegt bei gineatig vor. Es gibt zum Wort Noat die Redewendung in Neatn sain, daneben auch das Eigenschaftswort noatig – das allerdings fast nur als Schimpfwort verwendet wird. Wie aber aus Noat oder noatig mithilfe der Vorsilbe gi‑ gineatig wird, mit der Bedeutung ’eilig, in Zeitnot’, ist nicht einfach zu erklären; man kann sich nur denken, dass das, was hier nottut, nämlich Eile, ausgelassen wird.

Eine Reihe von Eigenschaftswörtern werden mit gi- aus Hauptwörtern gebildet: ggstroaft (gestreift) zu Stroafn, gipliëmp (geblümt) zu Pluëme, giwalkilit (kariert) zu Wålkn (eigentlich ‘Fensterbrett, Fensternische’). Woher gireeblt (graumeliert) für die Farbe von Hühnern kommt, ist schwer zu sagen.

Dass nicht alle Wortanfänge, die den Eindruck erwecken, sie seien mit der Vorsilbe gi- gebildet, es auch tatsächlich sind, wird bei Ggschtåttl, Gschlaaf (Schachtel, Sklave) und Ggschtraun (Hammel) sichtbar. Hier handelt es sich um Wörter aus dem Spätlateinischen und bei der Eingliederung der ungewohnten Lautkombination schk in den Wörtern scatola und Sklave in den Dialekt ist diese wohl einfach umgekehrt worden zu ggsch. Ggschtraun kommt vom mittellateinischen castranus oder castrunus und seine lautliche Angleichung an den Dialekt ist so zu sagen normal verlaufen. Der Giwëirstuan hat das gi- nicht selbst bekommen, sondern wohl vom Gewehr übernommen, mit dem er sonst nichts zu tun hat.

Der Unterschied zwischen Dialekt und Standardsprache im Gebrauch dieser Vorsilbe wird einem klar, wenn man bedenkt, dass Ersterer viele Standardwörter mit ge- nicht hat, z.B. Geweih, Gewölk, Gefieder, Gebirge. Statt dieser Kollektivbildungen, wie man sie nennt, zieht der Dialekt die Mehrzahl vor: Hëirne, (di) Neebl, Federn, Perge.