Dialekt und anderes
Franz Lanthaler
Zwischenregister der deutschen Sprache in Südtirol
Inhalt
Dies ist der in Wozu angegebene Artikel von 2001. Es handelt sich um einen Vortrag bei der Tagung “Die deutsche Sprache in Südtirol”, die der Autor zusammen mit Kurt Egger im Jahr 1999 in Bozen organisiert hat. Da der Verlag die Restbestände längst eingestampft hat und die Ausgabe, vor allem im Passeier, nicht sehr bekannt gewesen sein dürfte, soll hier denen, die der Text interessieren könnte, noch einmal die Gelegenheit geboten werden, ihn zu lesen. Es war eine damalige Bestandsaufnahme: Inzwischen hat sich vieles verändert und würde heute nicht mehr so bewertet, aber die Grundidee des Textes halte ich immer noch für gut, denn eine Reise durch die verschiedenen Sprachschichten in Südtirol, die gleichzeitig eine Zeitreise und eine Reise durch einen Teil unseres Landes ist, erlaubt es uns den sprachlichen Werdegang vieler junger Leute aus ländlichen Gegenden in Südtirol nachzuzeichnen.
Die Schreibung der Dialektwörter wird hier stark vereinfacht und der im Passeirer Wörterbuch angenähert, sodass sie auch für jemanden, der nicht mit Lautschrift vertraut ist, gut lesbar ein sollte.
F.L. 2022
Vorbemerkung
Die Feststellungen zur Entwicklung der deutschen Sprache in Südtirol, die im vorliegenden Beitrag festgehalten sind, sind nicht ganz neu, sondern zu einem guten Teil bereits vorgetragen und veröffentlicht worden. Trotzdem sollten sie unserer Meinung nach in einem Band zu diesem Thema vertreten sein, vor allem auch weil sie bisher im Land kaum rezipiert worden sind.
Es geht im Folgenden um die sprachlichen Zwischenschichten, die zwischen der Hochsprache und den tiefen Taldialekten liegen. Diese Schichten lassen sich jedoch nur von den beiden Extremen her bestimmen, sodass wir auch einige Worte zu dem, was in Südtirol als Standard gebraucht wird, werden verlieren müssen. Die Einzeldialekte und ihre Verteilung auf dem Territorium sind eingehend erforscht und schon öfter dargestellt worden; daher wird dieser Beitrag sich nicht damit befassen, obwohl auch diese Varietäten stark in Bewegung geraten sind.
Wer die Sprache in Südtirol aufmerksam beobachtet hat, dem ist es ohne Zweifel nicht entgangen, dass sich in den beiden letzten Jahrzehnten in dieser Sprachlandschaft vieles verändert hat. Selbstverständlich hat sich die deutsche Sprache überall verändert, nicht zuletzt auch die Hochsprache. Noch mehr jedoch als die Sprache selbst hat sich die Einstellung der Sprachgemeinschaft zu den Varietäten verschoben. Zu Beginn der 80er Jahre hat Johannes Kramer das Deutsch der Südtiroler so beschrieben, dass man heute meinen könnte, er beschreibe die sprachliche Situation der Mòcheni. Heute würde das niemand mehr in dieser Form tun: nicht, weil sich unsere Sprache so stark verändert hat, sondern weil sich inzwischen die Einstellung der Sprachgemeinschaft zur einen deutschen Hochsprache geändert hat. Die Anschauung, dass es mehrere Standardvarietäten des Deutschen gibt und dass größere Sprachlandschaften je ihre eigene Varietät gebrauchen, und zwar schriftlich wie mündlich, hat sich inzwischen endgültig durchgesetzt. Niemand mehr wertet jemandes Deutsch ab, weil es eine regionale Prägung aufweist, also von einem Österreicher oder Schweizer oder süddeutschen Wortschatz oder einer entsprechenden Aussprache geprägt ist.
Wie sieht es nun zwischen den beiden Polen Dialekt – Hochsprache aus?
Das Dialektkontinuum
Wir haben bisher unseren Sprachgebrauch in Südtirol meist (nach Ferguson) als “mediale Diglossie” definiert und haben diese so beschrieben: Geschrieben wird in Hochdeutsch, gesprochen wird – bis auf ganz wenige offizielle Situationen – Dialekt. Mit diesem Konstrukt ließ sich in der Deutschdidaktik gut arbeiten. Natürlich waren wir uns der Tatsache bewusst, dass mit Dialekt nicht einfach die Basisdialekte gemeint sein konnten, sondern dass es zwischen diesen und der Hochsprache Zwischenstufen gab, die allerdings immer noch stark von den Einzeldialekten geprägt waren. Seit 1981 (Saxalber 19821 und 2 ) wussten wir auch, dass die Sprecher die Situation anders einschätzen und in vielen Situationen Umgangssprache zu sprechen glauben, wo wir ihre Äußerungen noch als dialektal bezeichnet hätten.
Wir wollen uns nun aber das ganze angesprochene Spektrum der Reihe nach vor Augen führen und wir können uns die hiesigen Varietäten des Deutschen auf einer Reise durch das Dialekt-Hochsprache-Kontinuum im Land als Reise durch die Landschaft vorstellen. Welche linguistischen Stationen durchläuft z. B., wer – so wie ich – in einem Hochtal in einen tiefen Taldialekt hineingeboren wird, auf seinem Weg durch die Südtiroler Sprachlandschaft? Wir werden uns das auf dem Weg, der ein Mädchen aus Rabenstein in Passeier, meinem Geburtsort, nach Bozen führt, vor Augen führen. (Es war übrigens nicht mein Weg; der führte über Umwege und nicht ganz bis Bozen.)
Diese diatopische Sprachreise ist selbstverständlich auch mit einer diachronischen, also mit einer Zeitreise verbunden, die uns aus den 70er Jahren in die Gegenwart führt.
Nehmen wir also an, das Kind, dessen sprachliche Entwicklung wir verfolgen sollen, ist Ende der 60er Jahre auf einem abgelegenen Bergbauernhof in Rabenstein geboren und hat gerade die ersten Worte gelallt, als ich die Aufnahmen zu meiner Dissertation machte. Welche Varietät hat es damals erworben?
Dieses Kind ist in eine Zeit hineingeboren, in welcher vieles im Dorf im Wandel begriffen war und traditionelle Arbeits- und Lebensformen abgelöst zu werden begannen. Es begann die Mechanisierung der Arbeit, nachdem Elektrizität und der Benzinmotor verfügbar wurden. Die alte Nachbarschaftshilfe war nicht mehr nötig. Die Arbeit wurde leichter, Kräfte wurden frei und gingen als Saisonarbeiter in den Fremdenverkehr oder verdingten sich bei Tiefbaufirmen im Straßenbau. Die Timmelsjochstraße wurde fertig gebaut (1967) und der Durchzugsverkehr begann zu fließen. Man bekam immer mehr Kontakt mit anderen Menschen und Varietäten.
In der Familie ist unser Kind wahrscheinlich noch mit einer Haussprache aufgewachsen, die folgende Charakteristiken aufwies (ich nenne nur jene, die diesen Dialekt von anderen diatopischen und diastratischen Varietäten unterscheiden):
Alle so genannten primären Dialektmerkmale im Wortschatz, wie: hou, pëiglgoaß, Så̃khliãrt, siibizgg (nicht wahr, Totenkauz, St. Leonhard, siebzig);
für Sprecher von Nachbardialekten sind auch die Lokalpartikeln des hintersten Passeiertales auffallend: auchn, oochn, inhn (hinauf, hinunter, hinein), ånhn, durch (hinüber), dinnin (drinnen).
die Singular-Pluralopposition ui – ia bei einer Reihe von Verben: i puig – miar piagn, du zuichsch – des ziacht, di suppe suidit – d’eertepfl siadn (Spottvers: Luis, nimm di pix’und schuiß!);
der “starke” Konjunktiv II bei vielen Verben (z. T. auch bei solchen, die in der Hochsprache der “schwachen” Flexion zugeordnet werden): siag, miach, friag, schluff, zuuch, saach, galt, ferluur;
weitere für Nichtansässige ungewöhnliche “starke” Formen auch im Partizip II: gikrischtn, giriffn, gikichn.
Eine weitere Eigenart dieser Haussprache war die extreme Klitisierung der Pronomina, die eine ganz bestimmte Wortfolge verlangte, wenn zwei oder mehr Pronomina zusammenstießen:
wail sise ggseechn hoobm, wennernse gip, hoobm sidns ggsågg? (weil sie sie gesehen haben, wenn er sie ihm gibt, haben sie es ihm gesagt?); das kann sogar zu zweideutigen Formen führen: miar hoobms’enk gi'låt (wir haben es/sie euch überlassen). Vollformen der Pronomina treten nur bei Erststellung oder besonderer Fokussierung auf. Überhaupt ist es eine Eigenart dieses Dialekts, Vokale zu elidieren und Konsonanten zu assimilieren.
Ein anderes Charakteristikum ist die Erhaltung eines Endungs-e an vielen Feminina: di kåtse, d’ålbe, di piire.
Wenn unser Kind nun Mitte der 70er Jahre zur Grundschule ins Dorf kommt, merkt es vielleicht zum ersten Mal, dass nicht alle Leute im Dorf ganz dieselbe Sprache sprechen. Ein Kind aus einem anderen Weiler sagt (schon) plaibet (statt pliib). Von der Tante, die möglicher Weise in der Meraner Gegend in einem Gastbetrieb arbeitet, hört es auch schon: es ziacht und di suppe siadet und wahrscheinlich auch schon pouzn statt poazn (für Bozen).
In dieser Zeit wird auch das Dorf selbst an das Straßennetz angebunden (1978). Immer mehr Leute kommen von auswärts und immer mehr junge Leute aus dem Dorf suchen anderswo Arbeit und kommen nur noch am Wochenende oder in den Ferien zurück. Nun kommt auch die Post täglich ins Dorf und damit die Zeitung. Auf jedem Dach ist nun eine Fernsehantenne und der Medienkonsum steigt. Auch unsere junge Rabensteinerin verbringt nach Schule und Aufgaben ein zwei Stunden vor dem Fernsehapparat mit Heidi und den Mainzelmännchen usw.
Nach Abschluss der Grundschule wird unsere Schülerin täglich mit einem Kleinbus nach St. Leonhard zur Mittelschule gebracht. Dort sitzt sie in einer Klasse mit Kindern aus dem gesamten hinteren Passeiertal. Sie wird ausgelacht, wenn sie hou sagt, niemand weiß, was a haizuig ist, und das Dorf heißt nun Sankt Leonhard. Jetzt merkt sie, dass es nicht nur ihren Dialekt für den Alltag und die Hochsprache für die Schule und zum Schreiben gibt, sondern dass es Sprachformen dazwischen für die mündliche Kommunikation gibt, die von ihrer Umgebung als “feiner”, als korrekter angesehen werden. Es ist noch immer Passeirer Dialekt, was hier alle sprechen, auch die LehrerInnen in der Pause und außerhalb der Klasse, aber nicht mehr der “tiefe” Taldialekt, mit dem sie auf dem Hof in Rabenstein aufgewachsen ist. Sie beginnt selber für die Wochentage dianschtig, mittwoch und donnerstoog zu sagen statt erchtig, mittig und pfinstig. Und wenn der Onkel tschuggilaare für Schokolade sagt, dann muss sie selber lachen.
Mit 14 entscheidet sich unser Mädchen für den Besuch einer Oberschule in Meran. Nun kann sie nicht mehr jeden Tag nach Rabenstein fahren, sondern muss in einem Heim in Meran bleiben. Dort sind Jugendliche aus verschiedenen Landesteilen versammelt und alle sprechen ihren Ursprungsdialekt, allerdings ebenso abgeschwächt, wie das inzwischen bei unserer Schülerin der Fall ist. Die gesamte Umgebung außerhalb des Heimes jedoch spricht einen verstädterten Bruggräfler Dialekt, der sowohl in der Syntax als auch in der Lexik viele hochsprachliche Züge trägt, aber immer noch klingt wie ein Dialekt. Nun schleift auch unsere ‘Aspektfigur’ aus Rabenstein viele Züge des tiefen Taldialekts ab. Sie sagt nun selber: ummi/ånni, aui, oi (hinüber, hinauf, hinunter), håt sis iim ggsågg? (hat sie es ihm gesagt?), sibzig und prout (statt proat). Völlig neu in ihrem Repertoire ist jetzt die Form woor (war). Das Imperfekt hat sie bisher nur in der Hochsprache gekannt und nur im Schriftlichen oder in der Schule verwendet. Sie hat es auch dann nicht gebraucht, wenn sie Feriengästen aus Deutschland in Hochsprache etwas erzählt oder beschrieben hat. Nun hört sie es an jeder Ecke und gebraucht es selber, und ihrer Familie in Rabenstein fällt das nicht einmal mehr auf.
Von ihren Kolleginnen hört sie nun auch andere Klänge: ein mehrschlägiges Zungenspitzen-r aus dem oberen Vinschgau, eine starke Nasalierung aus dem Ulten oder vom Nonsberg. Ein Mädchen aus Graun erklärt ihr, dass man bei ihr zu Hause khet sagt für khåp (gehabt) und was majen bedeutet, nämlich das, wozu man im Passeier maan sagt und die Burggräfler maanen (mähen). Sie wiederum erklärt den anderen, was a gaawinte ist, nämlich s gwaante für die aus dem oberen Vinschgau und eine Wechte für die gesamte übrige Welt. Immer häufiger verwendet sie, wenn sie mit Gleichaltrigen zusammen ist, auch eine Jugendsprache, die gespickt ist mit italienischen und englischen Ausdrücken. Ihr Freund erzählt ihr, dass er beim letzten Handballspiel ein tolles Tor geschossen hat palo kraizegg, und alles, was ihr gefällt, ist entweder geil oder cool.
Ohne es zu merken werden alle diese Jugendlichen mehrsprachig in ihrer Muttersprache, behalten den Tonfall und den Akzent ihres Ursprungsdialekts weitgehend bei, verwenden aber immer mehr Wörter aus prestigehaltigeren Nachbardialekten und hochsprachenahe Formen und Formulierungen. Und wenn sie am Wochenende nach Hause kommt, verwendet sie ihre “neue” Sprache. Ihre jüngeren Geschwister kommen nun noch früher mit der dialektalen Koiné in Kontakt als sie selber.
Inzwischen hat sich auch die Wirtschaftsstruktur des Dorfes völlig verändert. Von den ca. 450 Personen, die in dem Dorf geboren sind, hat sich inzwischen ein gutes Drittel in einer anderen Gemeinde niedergelassen, ein guter Teil der erwachsenen männlichen Bewohner sind Wochen- oder Tagespendler, auch viele Bauern gehen zeitweilig einer Nebenerwerbsbeschäftigung nach; viele junge Frauen arbeiten auswärts im Fremdenverkehr und kommen nur noch im Urlaub ins Dorf zurück. Dazu kommen noch die Veränderungen in der Landwirtschaft selbst, dann der Besucherstrom über die Timmelsjochstraße, die Fernwanderer über den E5 (Bodensee – Gardasee) und nicht zuletzt die intensive Mediennutzung, die, wie bereits angedeutet, heute auch in jedem Bauernhaus eine Selbstverständlichkeit ist.
Wen wunderts, dass, wer an meinen Geburtsort kommt, eine andere Sprache hört als die, welche ich als Kind gesprochen und um 1970 noch aufgenommen habe. Alle erwähnten Personengruppen haben intensive Kontakte nach außen und bringen ebenso wie unsere Begleitperson auf der Südtirolreise sprachliche Neuerungen in den Ort. Nach der Hypothese der sozialen Netzwerke der Milroys (Milroy & Milroy 1985) ergäbe sich aus der jetzigen Konstellation im Dorf eine Schwächung des ehemals starken, geschlossenen sozialen Netzes und damit verbunden ein zunehmendes Eindringen neuer offener oder verdeckter Prestigeformen aus anderen Varietäten, d. h. aus prestigehaltigeren Nachbardialekten, aus einer regionalen Koiné oder aus der Hochsprache. Es gibt einige Anhaltspunkte dafür. Eine Reihe von Interviews, die ich bisher gemacht habe, bestätigen den ersten Eindruck, der ja auch keineswegs überrascht.
Da Prestige manchmal – und gerade in Südtirol – nur mit Hochsprache in Verbindung gebracht wird, weil man dabei nur an offene Prestigeformen denkt, ist es vielleicht nützlich hier einmal eine Äußerung von Jespersen aus dem Jahr 1923 zu zitieren (Jespersen 1964, 292, zit. nach Huesmann 1998, 13; übersetzt vom Ref.):
“Nachahmung ist im Wesentlichen ein soziales Phänomen, und wenn Menschen nicht immer das Beste (das beste Verhalten, die beste Aussprache) nachahmen, so werden sie im Allgemeinen die höher Stehenden nachahmen, also Leute, die ihnen überlegen sind im Hinblick auf soziale Position, Status, kurzum in allem, was man für beneidenswert hält. Was diese Überlegenheit ausmacht, kann nicht ein für alle Mal festgestellt werden, es ändert sich je nach Umfeld, Alter etc.”
Bei Nichtstandardvarietäten sprechen wir daher häufig von verdecktem Prestige, weil die Sprachformen dieses Prestige nicht selber transportieren, sondern es von den Sprachverwendern übernehmen.
Die sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen haben einen zweifachen Prozess sprachlicher Veränderung ausgelöst: Wer im Dorf bleibt, verändert seine Sprache, nimmt Neues von außen auf oder bringt es selbst ins Dorf herein, und wer nicht zurückkommt, passt sich der Varietät seiner neuen Umgebung an, gibt aber möglicherweise auch etwas an diese ab. Dass die Jungen nun ihre Alltagssprache nicht mehr ausschließlich von den Erwachsenen im Dorf übernehmen, geht aus dem oben zitierten Beispiel hervor: Während die Großmutter zum Dienstag immer noch erchtig sagt und zum Donnerstag pfinstig, weiß die 17-jahrige Enkelin jetzt nicht einmal mehr, was die Wörter bedeuten. Man könnte fast sagen, dass Schule, regionale Nachbarschaft und Medien für das Elternhaus und das Dorf gleichwertige sprachliche Sozialisationspartner geworden sind.
Aber nicht nur im lexikalischen Bereich hat es, wie wir schon an früheren Beispielen gesehen haben, Änderungen gegeben. Das, was die Besonderheiten der Phonologie des hinteren Passeiertales ausmachte, nämlich Assimilation, Elision und Verschmelzung – besonders deutlich festzustellen bei den Klitika – wird jetzt bei den Jüngeren immer öfter durch eine “klarere” Aussprache ersetzt, die auch von Auswärtigen gut verstanden werden soll.
Das unfeine Hochdeutsch
Nehmen wir nun an, unser Mädchen aus Rabenstein hat inzwischen die Matura bestanden und begibt sich Ende der 80er Jahre nach Bozen, wo sie einen von der Europäischen Union finanzierten dreijährigen Kurs besucht, der sie in den Gebrauch von Computerprogrammen einführt, wie man sie in Landesämtern und bei größeren Betrieben braucht. Bei diesen Kursen gilt nun nicht mehr die Weisung des Schulamts, dass in der Klasse nur Hochdeutsch verwendet wird. Die Lehrer/innen sind jetzt meist “Berufstätige”, die ein eigenes Büro haben und in der Klasse eine gehobene Umgangssprache verwenden oder etwas, was unsere junge Frau als solche betrachtet. Dazu gehört z. B. die Palatalisierung eines Teiles der /s/ vor den Plosiva p, t, k zu /sch/ – nicht durchgehend, da dies zu dialektal klingen würde, wie das bei langem o für hochsprachlich lang a der Fall ist. Sie begegnet jetzt in ihrer Umgebung einem neuen Laut, den sie bisher nur von Politikern, Wirtschaftstreibenden und Vereinsfunktionären in Radio und Fernsehen gehört hat, nämlich einem langen offenen å. Sie hört jetzt ständig: miar hååbm, sii fåårn. Dieses Phonem kommt in den ursprünglichen Tiroler Dialekten zwar vor, allerdings äußerst selten, vor allem bei getå̃n (mit starker Nasalierung) und als Exotikum in einzelnen, meist isolierten, dialektalen Kleinräumen (am Deutschnonsberg, wo es der Tiroler Sprachatlas verzeichnet, ist es mir nicht bestätigt worden). In allen anderen Fällen entspricht hochdeutsch langes a in den Tiroler Dialekten ein geschlossenes langes o, also für “fahren, zahlen, Paar, bar (Geld)” steht dann foorn, zooln, poor, poor. In der hier beschriebenen Varietät nun werden die langen a zu einem langen å verdumpft, wofür es im Dialekt, wie erwähnt, praktisch keine Grundlage gibt: also fåårn, zååln, påår.
Nicht selten steht auch ein geschlossenes ë, wo ein offenes zu erwarten wäre, also stëllt für “stellt” ; sogar ö und ä können in dieser Varietät zusammenfallen. Im Fremdwort “Chef” steht langes geschlossenes e für kurzes offenes: /scheef/. Langem e hingegen kann Gegenteiliges widerfahren: “hebt” wird zu hëpt, “lebt” zu lept usw. Das hat wohl damit zu tun, dass im Dialekt der dentale Verschlusslaut, welcher die Personalform der 3. Person Sg. markiert, mit dem vorhergehenden stimmhaften Labial zusammenfällt, wobei ein stimmloser labialer Verschlusslaut entsteht. Dies führt durchgehend zu einer Kürzung des Vokals.
Mit dieser Varietät, die Judith Bertagnolli 1994 beschrieben und im Anklang an Mattheier als “unfeines Hochdeutsch” bezeichnet hat, ist unsere Begleitperson aus Rabenstein am Ziel ihrer Sprachreise angekommen, denn dies ist die der Hochsprache am nächsten stehende Sprachform im Südtiroler Spektrum, und Letztere hat die junge Frau ja schon das ganze Leben begleitet, und zwar in verschiedenen Formen, wie wir noch sehen werden.
Bis in die frühen 90er Jahre war dieses “unfeine Hochdeutsch” die Sprache der Eliten in öffentlichen und halböffentlichen Situationen. In den letzten Jahren ist sie zunehmend die mündliche Sprache aller mehr oder weniger gebildeten Schichten in diesen Situationen geworden. Zunächst waren es die mittleren Kader, die die Eliten nachgeahmt haben: Gemeindepolitiker, Verwalter der mittleren Ränge, Vereinsvorstände. Jetzt kann man keiner Stadtviertelversammlung, ja kaum noch einer Lehrerkonferenz beiwohnen, wo nicht von einer großen Anzahl der Beteiligten, wenn nicht von der Mehrheit, diese Varietät verwendet wird – mit einer großen Variationsbreite: manche verdumpfen nur das kurze a, mache auch das lange a; manche palatalisieren das s vor p, t, k nur am Silbenanfang, manche gar nicht, manche auch im Silbenauslaut. Ein nicht verdumpftes a bezw. å ist in den meisten Situationen fast nur noch in fremdstämmigen Wörtern zu hören. Auch Leute, die einem im Privaten gestehen, dass sie diese Sprachform nicht als Standard ansehen oder dass sie ihnen auch gar nicht gefällt, verfallen in sie bei bestimmten Gelegenheiten.
Wie kann man die so beschriebene Varietät definieren bzw. von Hochsprache und Dialekt abgrenzen und was hat ihr in einem guten Jahrzehnt zum Durchbruch verholfen?
Beide Fragen sind nicht leicht zu beantworten und ich fürchte, dass ich die zweite auch gar nicht präzise beantworten kann. Dazu müsste man in den Archiven der RAI Bozen die letzten 15 Jahre noch einmal genau durchgehen. Bertagnolli meint, dass der frühere Landeshauptmann, der ja nicht ein im Dialekt sozialisierter Südtiroler war, nicht nur der “Vater” der Südtirolpolitik, sondern auch dieser Sprachform war. Indem er sich in seinen informellen Gesprächen, welche alle seine Partner im Dialekt führten, der Umgebung im Phonologischen anpasste und diese Form nun auch in formellen Situationen verwendete, könnte er diese neue Varietät hoffähig gemacht haben. Tatsächlich verwenden viele langjährige politische Wegbegleiter des Altlandeshauptmanns auch heute noch die hochsprachliche Lautung, wie wir sie im süddeutschen Raum gewohnt sind, während fast alle jetzt aktiven Politiker das “unfeine Hochdeutsch” sprechen. Wenn jedoch der Ursprung dieser Varietät nicht so leicht zu bestimmen scheint, so kann kein Zweifel darüber bestehen, dass es die starke Medienpräsenz einer kleinen Gruppe einflussreicher Leute war, die dieser Varietät zum Durchbruch verholfen hat. Aber zur Frage der Normautoritäten werden wir ja später an diesem Vormittag noch kommen.
Leichter zu beantworten ist die andere Frage, nämlich die nach der Abgrenzung des “unfeinen Hochdeutsch” von den Nachbarvarietäten.
Wichtig für die Zuordnung einer Äußerung zu einem Register ist in einem solchen Fall nicht nur die Systembeschreibung, sondern auch die Sprecherintention, also die “Gerichtetheit” der Äußerung, um einen Terminus von Ramge (1978) abzuwandeln: will der Sprecher hochdeutsch sprechen oder Dialekt oder eine Varietät zwischen diesen beiden? Meines Erachtens hat Bertagnolli recht, wenn sie dieses Register als “unfeines Deutsch”, also einen als standardsprachlich intendierten Substandard bezeichnet. Obwohl nämlich eine Reihe von Charakteristika dieses Registers ihre Grundlage im Dialekt haben, also das Phoneminventar gemäßigter Südtiroler Dialekte nutzen, sind die bei Bertagnolli zitierten Äußerungen ebenso wie die Beispiele, die ich selbst aufgenommen habe, zum größten Teil als standardgerichtet zu betrachten. Zum einen handelt es sich fast durchgehend um öffentliche Diskussionen, Interviews, Pressekonferenzen, Ansprachen vor Versammlungen und in den Massenmedien; weiters geht es um Themen von allgemeinem, öffentlichen Interesse. Auf Systemebene sind schließlich das völlige Fehlen aller dialekttypischen fallenden Diphthonge ebenso wie das Vorhandensein des im Dialekt praktisch nicht vorhandenen Phonems lang å ein weiteres Indiz für die Sprecherintention, sich in Hochsprache oder in einer dieser nahe stehenden Variante auszudrücken.
Dass diese Varietät einmal mündlicher Südtiroler Standard wird, ist aus mehreren Gründen auszuschließen. Für eine Standardvarietät ist nämlich nach Ammon (1995,73) Voraussetzung, dass sie “für die ganze Nation bzw. die ganze betreffende Sprachgemeinschaft einer Nation […] gilt und dass sie in öffentlichen Situationen die sprachliche Norm bildet.” Solange die Mediensprecher ihre Interviewpartner immer noch im “akzeptierten” Standard ansprechen, die Nachrichten in diesem verlesen und die Schule diesen lehrt, wird das “unfeine Hochdeutsch” zwar als in vielen Situationen geduldeter und verwendeter Substandard in Südtirol weiter bestehen, seine Domänen noch etwas ausbauen, aber es wird nie zum akzeptierten Standard avancieren. Huesmann (1998, 34) liefert auch einen Grund für diese Klassifizierung: “Eine sehr standardnahe Varietät wird, außer als stilistische Variation, standardsprachliche Sprachzeichen und regionalsprachliche Sprachzeichen aufweisen, aber keine oder nur sehr wenige dialektale Sprachzeichen.”
Wenn wir mit Reiffenstein (83) der Meinung sind, dass wichtiger als die materiellen Verschiedenheiten die Bewertung derselben durch die Sprechergemeinschaft selbst und durch ihre Nachbarn ist, dann müssen wir wohl noch einige Klärungen herbeiführen, bevor wir über dieses Register ein endgültiges Urteil sprechen.
Judith Bertagnolli hat eine Reihe von Sprachteilhabern nach ihrer Einstellung zu dieser Varietät befragt.
Als Sprecher dieser Sprache werden vor allem drei Kategorien genannt: Politiker, hohe Beamte, die “oberen Zehntausend”, vor allem die Bozner Oberschicht ist hier gemeint. Wie bereits erwähnt, scheint diese Zuordnung längst überholt zu sein.
Als Beweggründe für den Gebrauch dieser Varietät nennen viele von Frau Bertagnolli Befragte: “Unfähigkeit, Gewohnheit oder Anbiederung”. Dies mögen vorschnelle Urteile sein, denn bei einigen Politikern weiß ich z. B. ganz genau, dass sie auch anders können.
Allerdings mag bei manchen Sprechern von allen diesen etwas drin stecken. Politiker nutzen nicht nur in unseren Breiten die Sprache dazu zu zeigen, dass sie sich mit der Bevölkerung solidarisieren. In Gegenden, wo die Hochsprache in einer “gepflegten” Form für viele Sprachteilhaber außer Reichweite erscheint, Komplexe hervorruft, zeigt man sich als volksnahe, wenn man dialektale Einschläge verwendet. Man hebt dadurch Distanzen auf, beseitigt Fremdheit, vermeidet es, als affektiert zu erscheinen. Man zeigt auch, dass man einer aus dem Volk ist, sich nicht von seinen Wählern, Mitstreitern etc. entfernt hat, dass man seine Herkunft nicht verleugnet. Populismus und Anbiederung sind dabei nicht ausgeschlossen. Symptomatisch erscheint auch die Tatsache, dass Politiker konservativer Prägung im Durchschnitt dieses Register stärker nutzen, was ein weiteres Indiz für die rhetorischen Verwendungstendenzen wäre, von denen hier die Rede geht. Frauen nutzen es weit weniger.
Aber auch für sich selber können die Sprecher durch diese Varietät die Distanz zu der nicht besonders geliebten Hochsprache aufheben. “Das Hochdeutsch im niederdeutschen Munde”, wie die Siebskommission das richtig ausgesprochene Deutsch definiert, ist den Südtirolern fast ebenso ferne wie den Schweizern. Vielleicht hat man ihm in der Vergangenheit einen so hohen Stellenwert eingeräumt, dass man beschlossen hat, es lieber gar nicht mehr so zu sprechen, wie es einmal vorgeschrieben war. Auf jeden Fall kann man auch aus der Not eine Tugend machen, indem man in dieser neuen Varietät Phoneme, die man vielleicht aus Mangel an Übung nicht besonders gut realisieren kann, durch solche ersetzt, die einem geläufig sind. Man tut aber zugleich kund, dass man so reden will, wie man es eben kann.
Judith Bertagnolli konnte schließlich auch feststellen, daß ein erheblicher Prozentsatz von Sprachteilhabern dieses “unfeine” Deutsch akzeptiert, wobei es erhebliche Unterschiede zwischen den Domänen gibt. So hätten etwa zwei Drittel der Oberschicht den Gebrauch des unfeinen Deutsch in der Kirche akzeptiert; bei offiziellen Anlässen hätten 85% der Unterschicht und 70% der Mittelschicht das “unfeine” Deutsch als angemessen betrachtet, aus der Oberschicht allerdings nur 55%. Der Gebrauch dieser Varietät in den Medien – wo sie so massiv anzutreffen ist – wurde schon mehrheitlich abgelehnt, paradoxerweise vor allem von der Oberschicht, deren Vertreter es dort am meisten verwenden. Etwa 30% der Befragten glaubte auch, ein “feineres” Hochdeutsch zu sprechen. Rund die Hälfte der Mittel- und Unterschicht und ein Viertel der Oberschicht glaubten, nicht so “fein” sprechen zu können. Von über 70% der Befragten wurde dieses Deutsch als “eine Art Südtiroler Hochdeutsch”, “Tiroler Hochdeutsch”, “österreichisches Hochdeutsch”, “Hochdeutsch mit dialektalem Einschlag”, einmal auch als “schlechtes Hochdeutsch” bezeichnet, von niemandem jedoch als “richtiges Hochdeutsch”. Gelegentlich wird es auch – wohl eher von politisch Andersdenkenden – als “Parteideutsch” apostrophiert. Für viele im Land hat es eine starke Ähnlichkeit mit dem nicht allseits beliebten Bozner Deutsch (siehe Moser 82). Das betont offene lange å hat beim bewussten Dialektsprecher eine eher abschreckende als anheimelnde Wirkung; es wird ab und zu als “gscheart” bezeichnet, was in “feines” Deutsch übersetzt etwas mit Snobismus zu tun hat.
(Einen Effekt könnte diese Varietät nach sich ziehen, nämlich dass Vertreter/innen der italienischen Sprachgruppe mit ihrem angelernten Hochdeutsch neben diesen “heimischen Lauten” noch fremder klingen. Eine solche Intention nachzuweisen dürfte jedoch recht schwer fallen.)
Hochsprache
Nun ist Südtirol zwar keine große Sprachlandschaft, aber seine Geschichte und politische Lage haben zu einer eigenen sprachlichen Entwicklung geführt und es ist nicht einzusehen, warum bestimmte lexikalisch-semantische Eigenheiten nicht als Südtiroler Standard gelten sollten. Ich denke da an Begriffe wie Wettbewerb, wofür es keine brauchbare Übersetzung gibt, oder Bar, bei welcher die in Südtirol – und Italien – gängige Semantik dem englischen Original näher steht als die anrüchige, mit der das Wort im übrigen deutschen Sprachraum kursiert, und Ahnliche (Übrigens haben Hotelbar u. ä. auch schon den deutschen Sprachraum erobert). Man bedenke doch, den deutschen Assessor gibt es in Österreich auch nicht mehr und, was die Vernehmlassung ist, weiß außerhalb der Schweiz kaum jemand. Ich nehme hier schon den später folgenden Vortrag vorweg und mache mich zumindest für diesen kleinen Bereich gern als Sprachnormautorität anheischig, indem ich für ein Südtiroler Hochdeutsch eintrete, das zu einigen wenigen lexikalischen und semantischen Besonderheiten steht. Wir werfen den Schweizern schließlich auch nicht ständig ihre Interferenzen vor, wenn sie der Final sagen und wir akzeptieren ihr Zugsunglück. Warum sollen wir also zum Inspektor, den alle haben dürfen, nicht auch ein Inspektorat haben und warum nicht eine Wohnbau- und Industriezone?
Aber nun doch zu der Varietät, die in Südtirol als Hochdeutsch gilt. Sie ist schwerer zu definieren – gerade auf Grund dessen, was ich vorher gesagt habe –, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Denn während der eine eine Äußerung bereits als Interferenz, und damit als Fehler wertet, akzeptiert sie der andere als hochsprachliche Äußerung. Die Frage ist: Wo hat sich die Sprachgemeinschaft bereits mehr oder weniger bewusst für eine Südtiroler Variante entschieden und wo fällt es uns nur nicht mehr auf, dass wir anders sprechen und schreiben? Ich komme zum Assessor zurück: Er steht im “Verzeichnis der geläufigen Ausdrücke in der Verwaltung”, welches im Einvernehmen zwischen dem Regierungskommissär und “den drei Vertretern des Südtiroler Landtags” erstellt wurde. Er ist, wie vieles in der Südtiroler Verwaltungssprache, als Standard anzusehen, da er nicht aus der Sprachnot oder der sprachlichen Unzulänglichkeit des Einzelnen geboren, sondern von der zuständigen Sprachnormautorität erlassen worden ist.
Anders steht es mit dem Gebrauch von innerhalb in der Bedeutung von “bis und nicht später als”: innerhalb 12. März. Das fällt in Südtirol beinah nicht mehr auf, wohl aber denen, die von auswärts kommen.
Ich möchte mich aber nicht lange mit der Schriftsprache befassen, weil hier bis auf die bereits angedeuteten lexikalisch-semantischen Besonderheiten von der Südtiroler Sprachgemeinschaft sowohl die einschlägigen gesamtdeutschen (und österreichischen) Wörterbücher als auch die Grammatik des Hochdeutschen als Normautoritäten anerkannt und also nur Sprachäußerungen, die diesen entsprechen, als korrekt beurteilt werden.
Anders steht es um die mündliche Hochsprache in Südtirol. Seit einiger Zeit führen wir viele Fehler in den Heften unserer Schüler/innen nicht mehr einfach auf den Dialekt zurück, sondern auf die Mündlichkeit, die vieles erlaubt, was im Schriftlichen undenkbar wäre. So auch in Südtirol. Selbstverständlich sind jedoch viele Eigentümlichkeiten, vor allem in der Aussprache, auf eine dialektale Basis zurückzuführen.
Gerade in der Aussprache schwankt das Südtiroler Hochdeutsch zwischen Extremen: Am einen Extrempunkt haben wir etwa die Aussprache von st, sp und sk im Inlaut als scht, schp, schk, wie wir sie schon beim Subsatndard gesehen haben, oder fraudn für Frauen, freudn für freuen usw. ; am anderen wiederum die Aussprache von Erde als eade oder thee für Tee und zåniç und dergleichen. Und weil man sich der Tatsache bewusst ist, dass in Südtirol einiges anders – also dialektnah – ausgesprochen wird, streut man Hyperkorrektionen ein, spricht auch den Schleiflaut ə als e oder gar als ee und sagt östeereich. Am nächsten liegen die Extreme in den Medien, was ja bereits angeklungen ist. Da gibt es Sprecher/innen, die das sch mit starker Lippenrundung sprechen, oder ein rheinisch spirantisiertes r (damit es ja recht norddeutsch klingt). Daneben dann die breite Palette des “gängigen” Südtiroler Hochdeutsch, das ohne stimmhaftes s am Silbenanfang auskommt – wie der größere Teil des süddeutschen Raumes, übrigens –, in welchem ‑ig keine Auslautverhärtung erfährt und die Umlaute stark entrundet gesprochen werden.
Dass der stimmhafte Verschlusslaut b im Anlaut eher stimmlos gesprochen wird, ist ein Phänomen, das nicht nur Südtirol betrifft, sondern auch Teile Österreichs, also “Gepiet, Pubm”.
In letzter Zeit beobachte ich ein neues Phänomen in der Hochsprache und den ihr nahen Sprachschichten: Bei mehrgliedrigen Komposita rückt der Akzent nach rückwärts. Es heißt nun nicht mehr 'Landeshauptmann, sondern Landes'hauptmann und Brenner'staatsstraße, Lehrer'fortbildung und Straßen'zustandsbericht usw.
Wir stellen also fest – und die meisten von Ihnen haben es schon seit Längerem gewusst –, dass Sprache in Südtirol eine komplexe Angelegenheit ist. Es ist daher nicht möglich, in einem kurzen Beitrag die gesamte Problematik abzuhandeln. Ich habe bewusst vieles ausgeklammert: den in der Vergangenheit stark – in meinen Augen zu stark – beachteten Aspekt des äußeren Sprachkontakts, z. B., oder die Jugendsprache, die Amtssprache.
Ich habe auch nicht darüber gesprochen, was wir mit dem österreichischen Deutsch gemeinsam haben und was uns inzwischen von diesem trennt.
Viel zu sagen gäbe es auch über die Mediensprache, die in Südtirol eine sehr starke Ausklammerung bevorzugt.
Wenn es mit diesem Beitrag gelungen ist zu vermitteln, dass im Gefüge der deutschen Varietäten in Südtirol seit einiger Zeit eine rapide Entwicklung mit Konvergenzprozessen auf allen Ebenen im Gange ist, und wenn dazu auch noch einige der Tendenzen sichtbar geworden sind, dann wären die wesentlichen Ziele bereits erreicht.
Literatur
Ammon, Ulrich (1985): Möglichkeiten der Messung von Dialektalität. In: Besch, Werner und K. J. Mattheier (Hg.): Ortssprachenforschung. Beiträge zu einem Bonner Kolloquium. Berlin, 259 – 282.
Ammon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin – New York.
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